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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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mächtigen Impuls erhielten diese noch in ihrer Kindheit befindlichen historischen
Studien von den angelsächsischen Klöstern aus, wo man zuerst wieder auf die
Klassiker zurückging. Dort entstanden die für das ganze Mittelalter maßgeben¬
den Arbeiten des Beda, von dort verbreitete sich die Bekanntschaft mit Geschicht¬
schreibern des Alterthums nach dem Karolingerreichc, unter deren Einflüsse die
Werke des Paulus Diaconus und Einhard entstanden sind. Mit Gregor steht
der Letztere in keinem nachweislichen Zusammenhange: sein Leben Karls ist
durchaus Renaissance. Zwischen dem Beginn jener klösterlichen Annalistik
und dem Untergänge der antiken Geschichtschreibung liegt ein volles Jahr¬
hundert, aus welchem uns nur der barbarische Fredegar und die Kests. regnen
?i-gncoi-um dürftige Kunde bewahrt haben. Diese gähnende Kluft ist ein spre¬
chendes Zeugniß dafür, daß hier zwei Weltalter sich scheiden.

Der Schluß der griechischen Literaturgeschichte wird einstimmig erst mit
14S3 gemacht. Folgerichtigerweise müßten aber dann auch alle Werke der
Neugriechen bis dahin, wo sie aufhörten sich auf wissenschaftlichem Felde einer
anderen als der Volkssprache zu bedienen, also bis in verhältnißmäßig sehr
neue Zeit, in einer griechischen Literaturgeschichte Aufnahme finden; denn zwi¬
schen Byzantinern und Neugriechen ist kein Unterschied. Meiner Ueberzeugung
nach gehört die byzantinische Literatur nicht in eine griechische Literaturgeschichte,
wenn auch der Uebergang aus dem Alterthum in das Mittelalter hier kein
so schroffer ist wie im Abendlande. Der Schritt vom Griechischen zum Byzan¬
tinischen ist in der Hauptsache gleichbedeutend mit der Vertauschung des heid¬
nischen Standpunkts mit dem christlichen. Dieser Schritt ist in der Literatur
viel später gemacht worden als in Staat und Kirche, und man würde sehr
irren, wenn man mit Konstantin die byzantinische Literatur beginnen ließe.
Die Grenze fällt vielmehr mit den oben angedeuteten großen politischen Ver¬
änderungen zusammen: das Ende der griechischen Literatur erfolgte mit dem
Schlüsse des sechsten Jahrhunderts. Am deutlichsten springt der Abschnitt bei
der griechischen Philosophie in die Augen: die letzten neuplatonischen Philo¬
sophen, ein Damascius und Simplicius, lebten unter Justinian und erhielten
durch den Edelmuth des Chosru Nuschirwan, der ihre Restitution zu einer
Bedingung des Friedens mit den Römern machte, Duldung bis an ihr Ende,
welches zugleich das der heidnischen Philosophie war. Aber auch die christliche
Philosophie hörte im Orient um dieselbe Zeit auf. Joannes Philoponos, ein
wenigstens durch classische Gelehrsamkeit ausgezeichneter Erklärer des Aristoteles,
dessen langes Wirken sich von Justinian bis in das siebente Jahrhundert hinein
erstreckt, hatte-noch den Muth, den Gedanken der Dreieinigkeit bis in seine
letzten Konsequenzen durchzudenken, und selbstverständlich den Erfolg, in den
Ketzerverzeichnissen mit einem ungewöhnlich schwarzen Striche aufgeführt zu
werden. Die heilige orthodoxe cmatolische Kirche, die auf dogmatischen Gebiete


mächtigen Impuls erhielten diese noch in ihrer Kindheit befindlichen historischen
Studien von den angelsächsischen Klöstern aus, wo man zuerst wieder auf die
Klassiker zurückging. Dort entstanden die für das ganze Mittelalter maßgeben¬
den Arbeiten des Beda, von dort verbreitete sich die Bekanntschaft mit Geschicht¬
schreibern des Alterthums nach dem Karolingerreichc, unter deren Einflüsse die
Werke des Paulus Diaconus und Einhard entstanden sind. Mit Gregor steht
der Letztere in keinem nachweislichen Zusammenhange: sein Leben Karls ist
durchaus Renaissance. Zwischen dem Beginn jener klösterlichen Annalistik
und dem Untergänge der antiken Geschichtschreibung liegt ein volles Jahr¬
hundert, aus welchem uns nur der barbarische Fredegar und die Kests. regnen
?i-gncoi-um dürftige Kunde bewahrt haben. Diese gähnende Kluft ist ein spre¬
chendes Zeugniß dafür, daß hier zwei Weltalter sich scheiden.

Der Schluß der griechischen Literaturgeschichte wird einstimmig erst mit
14S3 gemacht. Folgerichtigerweise müßten aber dann auch alle Werke der
Neugriechen bis dahin, wo sie aufhörten sich auf wissenschaftlichem Felde einer
anderen als der Volkssprache zu bedienen, also bis in verhältnißmäßig sehr
neue Zeit, in einer griechischen Literaturgeschichte Aufnahme finden; denn zwi¬
schen Byzantinern und Neugriechen ist kein Unterschied. Meiner Ueberzeugung
nach gehört die byzantinische Literatur nicht in eine griechische Literaturgeschichte,
wenn auch der Uebergang aus dem Alterthum in das Mittelalter hier kein
so schroffer ist wie im Abendlande. Der Schritt vom Griechischen zum Byzan¬
tinischen ist in der Hauptsache gleichbedeutend mit der Vertauschung des heid¬
nischen Standpunkts mit dem christlichen. Dieser Schritt ist in der Literatur
viel später gemacht worden als in Staat und Kirche, und man würde sehr
irren, wenn man mit Konstantin die byzantinische Literatur beginnen ließe.
Die Grenze fällt vielmehr mit den oben angedeuteten großen politischen Ver¬
änderungen zusammen: das Ende der griechischen Literatur erfolgte mit dem
Schlüsse des sechsten Jahrhunderts. Am deutlichsten springt der Abschnitt bei
der griechischen Philosophie in die Augen: die letzten neuplatonischen Philo¬
sophen, ein Damascius und Simplicius, lebten unter Justinian und erhielten
durch den Edelmuth des Chosru Nuschirwan, der ihre Restitution zu einer
Bedingung des Friedens mit den Römern machte, Duldung bis an ihr Ende,
welches zugleich das der heidnischen Philosophie war. Aber auch die christliche
Philosophie hörte im Orient um dieselbe Zeit auf. Joannes Philoponos, ein
wenigstens durch classische Gelehrsamkeit ausgezeichneter Erklärer des Aristoteles,
dessen langes Wirken sich von Justinian bis in das siebente Jahrhundert hinein
erstreckt, hatte-noch den Muth, den Gedanken der Dreieinigkeit bis in seine
letzten Konsequenzen durchzudenken, und selbstverständlich den Erfolg, in den
Ketzerverzeichnissen mit einem ungewöhnlich schwarzen Striche aufgeführt zu
werden. Die heilige orthodoxe cmatolische Kirche, die auf dogmatischen Gebiete


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[0350] mächtigen Impuls erhielten diese noch in ihrer Kindheit befindlichen historischen Studien von den angelsächsischen Klöstern aus, wo man zuerst wieder auf die Klassiker zurückging. Dort entstanden die für das ganze Mittelalter maßgeben¬ den Arbeiten des Beda, von dort verbreitete sich die Bekanntschaft mit Geschicht¬ schreibern des Alterthums nach dem Karolingerreichc, unter deren Einflüsse die Werke des Paulus Diaconus und Einhard entstanden sind. Mit Gregor steht der Letztere in keinem nachweislichen Zusammenhange: sein Leben Karls ist durchaus Renaissance. Zwischen dem Beginn jener klösterlichen Annalistik und dem Untergänge der antiken Geschichtschreibung liegt ein volles Jahr¬ hundert, aus welchem uns nur der barbarische Fredegar und die Kests. regnen ?i-gncoi-um dürftige Kunde bewahrt haben. Diese gähnende Kluft ist ein spre¬ chendes Zeugniß dafür, daß hier zwei Weltalter sich scheiden. Der Schluß der griechischen Literaturgeschichte wird einstimmig erst mit 14S3 gemacht. Folgerichtigerweise müßten aber dann auch alle Werke der Neugriechen bis dahin, wo sie aufhörten sich auf wissenschaftlichem Felde einer anderen als der Volkssprache zu bedienen, also bis in verhältnißmäßig sehr neue Zeit, in einer griechischen Literaturgeschichte Aufnahme finden; denn zwi¬ schen Byzantinern und Neugriechen ist kein Unterschied. Meiner Ueberzeugung nach gehört die byzantinische Literatur nicht in eine griechische Literaturgeschichte, wenn auch der Uebergang aus dem Alterthum in das Mittelalter hier kein so schroffer ist wie im Abendlande. Der Schritt vom Griechischen zum Byzan¬ tinischen ist in der Hauptsache gleichbedeutend mit der Vertauschung des heid¬ nischen Standpunkts mit dem christlichen. Dieser Schritt ist in der Literatur viel später gemacht worden als in Staat und Kirche, und man würde sehr irren, wenn man mit Konstantin die byzantinische Literatur beginnen ließe. Die Grenze fällt vielmehr mit den oben angedeuteten großen politischen Ver¬ änderungen zusammen: das Ende der griechischen Literatur erfolgte mit dem Schlüsse des sechsten Jahrhunderts. Am deutlichsten springt der Abschnitt bei der griechischen Philosophie in die Augen: die letzten neuplatonischen Philo¬ sophen, ein Damascius und Simplicius, lebten unter Justinian und erhielten durch den Edelmuth des Chosru Nuschirwan, der ihre Restitution zu einer Bedingung des Friedens mit den Römern machte, Duldung bis an ihr Ende, welches zugleich das der heidnischen Philosophie war. Aber auch die christliche Philosophie hörte im Orient um dieselbe Zeit auf. Joannes Philoponos, ein wenigstens durch classische Gelehrsamkeit ausgezeichneter Erklärer des Aristoteles, dessen langes Wirken sich von Justinian bis in das siebente Jahrhundert hinein erstreckt, hatte-noch den Muth, den Gedanken der Dreieinigkeit bis in seine letzten Konsequenzen durchzudenken, und selbstverständlich den Erfolg, in den Ketzerverzeichnissen mit einem ungewöhnlich schwarzen Striche aufgeführt zu werden. Die heilige orthodoxe cmatolische Kirche, die auf dogmatischen Gebiete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/350>, abgerufen am 28.07.2024.