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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Wollte ein Geschichtschreiber der Zukunft mit der Entfernung des Königs
Otto von Griechenland einen Hauptabschnitt in der Geschichte Europas machen,
hö würde seine Berechtigung dazu sich schwer bestreiten lassen, wenn er
auf den uns beschäftigenden Präcedcnzfall, die angeblich so wichtige Apana-
girung des Romulus Augustulus, hinwiese. Das eine wie das andere Er¬
eignis) ist an der Mitwelt spurlos vorübergegangen, und es fragt sich, ob die
Nachwelt zu einer entgegengesetzten Auffassung berechtigt ist. Es ist nicht
einmal wahr, daß Romulus der letzte abendländische Kaiser gewesen ist. Ju¬
lius Nepos war es, der, von Konstantinopel aus anerkannt, nach der Ab¬
setzung des Romulus wieder den Purpur nahm und auf der östlichen Seite des
adriotischen Meeres noch bis 480 regierte. Diese kleine Ungenauigkeit möchte
indeß noch hingehen. Wenn man das Ende des weströmischen Reichs bestimmen
will, kann man sich doch nur entweder auf den Standpunkt der thatsächlichen
Zustände oder auf den des formellen Staatsrechts stellen; einen dritten Stand¬
punkt gibt es nicht. Thatsächlich war es mit dem abendländischen Kaiserthume
schon im Jahre 4SS zu Ende, in welchem Valentinian der Dritte ermordet
und Rom von den Wandalen geplündert ward. Von da an siel die Macht in
Italien den Häuptlingen der deutschen Söldncrschaaren zu, die sie freilich im
Namen der obscurer Nachfolger Valentinians ausübten, ohne jedoch durch ci-
was Anderes als die mehr als einmal mit Erfolg geltend gemachten Suze-
ränitätsrcchte des oströmischen Kaisers eingeengt zu sein. Dalmatien und Gal¬
lien, die letzten noch übrigen Provinzen, standen seit etwa 461 vollkommen
unabhängig von Ravenna da. In diese Zeit also das factische Ende des rö¬
mischen Reichs im Abendlands zu setzen, wie schon der verständige Zosimus
(1. 57) gethan zu haben scheint, ist das einzig sachgemäße. staatsrechtlich
betrachtet aber dauerte das römische Reich im Abendlande auch nach 476 noch
fort. Wie kommt es doch, daß Niemand zu sagen im Stande ist. welcher
deutsche Stamm eigentlich dem Römerreiche ein Ende gemacht hat? Wir wissen
jetzt freilich durch die Auszüge des Joannes von Antiochien bestimmt, was vor¬
der nur wahrscheinliche Combination war. daß das Volk, dessen Häuptling
Odoaker war, die Skiren gewesen sind, und können mir Fug vermuthen, daß
der sonst nicht wieder vorkommende Name der Turcilinger keinen Stamm,
sondern das Geschlecht bezeichnete, aus welchem die Skiren ihre Könige nah¬
men -- warum aber fühlt jeder, daß es dennoch eine Lächerlichkeit wäre, die
Skiren die Zertrümmercr des Römerreichs zu nennen? Gewiß darum, weil im


sollte daher erwarten, daß die Grenze beider viel leichter zu finden sein und
wenigstens ebenso richtig bezeichnet worden sein müßte als dort. Aber entspricht
das allgemein angenommene Jahr 476, in welches das Erlöschen der in Ra-
venna residirenden Nebenlinie des römischen Kaiserhauses fällt, wirklich auch
nur den gemäßigtsten Anforderungen? --

Wollte ein Geschichtschreiber der Zukunft mit der Entfernung des Königs
Otto von Griechenland einen Hauptabschnitt in der Geschichte Europas machen,
hö würde seine Berechtigung dazu sich schwer bestreiten lassen, wenn er
auf den uns beschäftigenden Präcedcnzfall, die angeblich so wichtige Apana-
girung des Romulus Augustulus, hinwiese. Das eine wie das andere Er¬
eignis) ist an der Mitwelt spurlos vorübergegangen, und es fragt sich, ob die
Nachwelt zu einer entgegengesetzten Auffassung berechtigt ist. Es ist nicht
einmal wahr, daß Romulus der letzte abendländische Kaiser gewesen ist. Ju¬
lius Nepos war es, der, von Konstantinopel aus anerkannt, nach der Ab¬
setzung des Romulus wieder den Purpur nahm und auf der östlichen Seite des
adriotischen Meeres noch bis 480 regierte. Diese kleine Ungenauigkeit möchte
indeß noch hingehen. Wenn man das Ende des weströmischen Reichs bestimmen
will, kann man sich doch nur entweder auf den Standpunkt der thatsächlichen
Zustände oder auf den des formellen Staatsrechts stellen; einen dritten Stand¬
punkt gibt es nicht. Thatsächlich war es mit dem abendländischen Kaiserthume
schon im Jahre 4SS zu Ende, in welchem Valentinian der Dritte ermordet
und Rom von den Wandalen geplündert ward. Von da an siel die Macht in
Italien den Häuptlingen der deutschen Söldncrschaaren zu, die sie freilich im
Namen der obscurer Nachfolger Valentinians ausübten, ohne jedoch durch ci-
was Anderes als die mehr als einmal mit Erfolg geltend gemachten Suze-
ränitätsrcchte des oströmischen Kaisers eingeengt zu sein. Dalmatien und Gal¬
lien, die letzten noch übrigen Provinzen, standen seit etwa 461 vollkommen
unabhängig von Ravenna da. In diese Zeit also das factische Ende des rö¬
mischen Reichs im Abendlands zu setzen, wie schon der verständige Zosimus
(1. 57) gethan zu haben scheint, ist das einzig sachgemäße. staatsrechtlich
betrachtet aber dauerte das römische Reich im Abendlande auch nach 476 noch
fort. Wie kommt es doch, daß Niemand zu sagen im Stande ist. welcher
deutsche Stamm eigentlich dem Römerreiche ein Ende gemacht hat? Wir wissen
jetzt freilich durch die Auszüge des Joannes von Antiochien bestimmt, was vor¬
der nur wahrscheinliche Combination war. daß das Volk, dessen Häuptling
Odoaker war, die Skiren gewesen sind, und können mir Fug vermuthen, daß
der sonst nicht wieder vorkommende Name der Turcilinger keinen Stamm,
sondern das Geschlecht bezeichnete, aus welchem die Skiren ihre Könige nah¬
men — warum aber fühlt jeder, daß es dennoch eine Lächerlichkeit wäre, die
Skiren die Zertrümmercr des Römerreichs zu nennen? Gewiß darum, weil im


sollte daher erwarten, daß die Grenze beider viel leichter zu finden sein und
wenigstens ebenso richtig bezeichnet worden sein müßte als dort. Aber entspricht
das allgemein angenommene Jahr 476, in welches das Erlöschen der in Ra-
venna residirenden Nebenlinie des römischen Kaiserhauses fällt, wirklich auch
nur den gemäßigtsten Anforderungen? —
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[0340] Wollte ein Geschichtschreiber der Zukunft mit der Entfernung des Königs Otto von Griechenland einen Hauptabschnitt in der Geschichte Europas machen, hö würde seine Berechtigung dazu sich schwer bestreiten lassen, wenn er auf den uns beschäftigenden Präcedcnzfall, die angeblich so wichtige Apana- girung des Romulus Augustulus, hinwiese. Das eine wie das andere Er¬ eignis) ist an der Mitwelt spurlos vorübergegangen, und es fragt sich, ob die Nachwelt zu einer entgegengesetzten Auffassung berechtigt ist. Es ist nicht einmal wahr, daß Romulus der letzte abendländische Kaiser gewesen ist. Ju¬ lius Nepos war es, der, von Konstantinopel aus anerkannt, nach der Ab¬ setzung des Romulus wieder den Purpur nahm und auf der östlichen Seite des adriotischen Meeres noch bis 480 regierte. Diese kleine Ungenauigkeit möchte indeß noch hingehen. Wenn man das Ende des weströmischen Reichs bestimmen will, kann man sich doch nur entweder auf den Standpunkt der thatsächlichen Zustände oder auf den des formellen Staatsrechts stellen; einen dritten Stand¬ punkt gibt es nicht. Thatsächlich war es mit dem abendländischen Kaiserthume schon im Jahre 4SS zu Ende, in welchem Valentinian der Dritte ermordet und Rom von den Wandalen geplündert ward. Von da an siel die Macht in Italien den Häuptlingen der deutschen Söldncrschaaren zu, die sie freilich im Namen der obscurer Nachfolger Valentinians ausübten, ohne jedoch durch ci- was Anderes als die mehr als einmal mit Erfolg geltend gemachten Suze- ränitätsrcchte des oströmischen Kaisers eingeengt zu sein. Dalmatien und Gal¬ lien, die letzten noch übrigen Provinzen, standen seit etwa 461 vollkommen unabhängig von Ravenna da. In diese Zeit also das factische Ende des rö¬ mischen Reichs im Abendlands zu setzen, wie schon der verständige Zosimus (1. 57) gethan zu haben scheint, ist das einzig sachgemäße. staatsrechtlich betrachtet aber dauerte das römische Reich im Abendlande auch nach 476 noch fort. Wie kommt es doch, daß Niemand zu sagen im Stande ist. welcher deutsche Stamm eigentlich dem Römerreiche ein Ende gemacht hat? Wir wissen jetzt freilich durch die Auszüge des Joannes von Antiochien bestimmt, was vor¬ der nur wahrscheinliche Combination war. daß das Volk, dessen Häuptling Odoaker war, die Skiren gewesen sind, und können mir Fug vermuthen, daß der sonst nicht wieder vorkommende Name der Turcilinger keinen Stamm, sondern das Geschlecht bezeichnete, aus welchem die Skiren ihre Könige nah¬ men — warum aber fühlt jeder, daß es dennoch eine Lächerlichkeit wäre, die Skiren die Zertrümmercr des Römerreichs zu nennen? Gewiß darum, weil im sollte daher erwarten, daß die Grenze beider viel leichter zu finden sein und wenigstens ebenso richtig bezeichnet worden sein müßte als dort. Aber entspricht das allgemein angenommene Jahr 476, in welches das Erlöschen der in Ra- venna residirenden Nebenlinie des römischen Kaiserhauses fällt, wirklich auch nur den gemäßigtsten Anforderungen? —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/340>, abgerufen am 29.11.2024.