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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn
der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus,

Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die
denkwürdige Schrift aus "über den Zustand der deutschen Literatur". Zu ihr
möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen,
dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug
an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in
allen Zweigen unsres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen
Umgangsformen des Hauses -- daß Luther der einen Hälfte der Nation der
gepriesene Erretter, der anderen ein Gräuel ist? Noch fern ist die Zeit -- doch
auch sie wird erscheinen -- wo Alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen
Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen,
den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deut¬
schen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwuth
ihn bedeckt. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unse¬
rem großen Könige den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet: kein An¬
derer als Goethe hat das gute Wort gesprochen, Friedrich der Große erst hat
durch seine Thaten unsrem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen
Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den
Stoff geboten für die neu erstandene Dichtung -- hören wir ihn reden über
die Kunst der Deutschen! Klagen, nichts als Klagen über die form- und zuchtlose
Sprache. Klagen, daß unsre Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörter¬
buchs der Akademie eingezwängt sei, daß die Dramen Shakespeares, "würdig der
Wilden von Kanada", und die "abscheulichen Plattheiten" des Götz von Ber-
lichingen das rohe Volk erfreuen! Sie erstaunen über diesen unerhörten Be¬
weis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntniß
der deutschen Dichtung. Aber lesen Sie weiter in derselben Schrift, und zum
Herzen wird Ihnen reden die deutsche Empfindung desselben Mannes, der be¬
wegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armuth der Kunst
seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung.
Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation er¬
wacht, "und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden über¬
treffen. Ich bin wie Moses" ruft der König am Ende, "ich sehe das gelobte
Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten."

Halten Sie neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der
Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen -- so
werden Sie erstaunen, in wie seltsamem Irrthume die Beiden sich verfingen.
Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln,
und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das
gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen
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als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn
der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus,

Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die
denkwürdige Schrift aus „über den Zustand der deutschen Literatur". Zu ihr
möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen,
dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug
an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in
allen Zweigen unsres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen
Umgangsformen des Hauses — daß Luther der einen Hälfte der Nation der
gepriesene Erretter, der anderen ein Gräuel ist? Noch fern ist die Zeit — doch
auch sie wird erscheinen — wo Alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen
Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen,
den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deut¬
schen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwuth
ihn bedeckt. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unse¬
rem großen Könige den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet: kein An¬
derer als Goethe hat das gute Wort gesprochen, Friedrich der Große erst hat
durch seine Thaten unsrem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen
Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den
Stoff geboten für die neu erstandene Dichtung — hören wir ihn reden über
die Kunst der Deutschen! Klagen, nichts als Klagen über die form- und zuchtlose
Sprache. Klagen, daß unsre Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörter¬
buchs der Akademie eingezwängt sei, daß die Dramen Shakespeares, „würdig der
Wilden von Kanada", und die „abscheulichen Plattheiten" des Götz von Ber-
lichingen das rohe Volk erfreuen! Sie erstaunen über diesen unerhörten Be¬
weis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntniß
der deutschen Dichtung. Aber lesen Sie weiter in derselben Schrift, und zum
Herzen wird Ihnen reden die deutsche Empfindung desselben Mannes, der be¬
wegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armuth der Kunst
seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung.
Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation er¬
wacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden über¬
treffen. Ich bin wie Moses" ruft der König am Ende, „ich sehe das gelobte
Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten."

Halten Sie neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der
Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen — so
werden Sie erstaunen, in wie seltsamem Irrthume die Beiden sich verfingen.
Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln,
und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das
gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen
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[0323] als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus, Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die denkwürdige Schrift aus „über den Zustand der deutschen Literatur". Zu ihr möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen, dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in allen Zweigen unsres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen Umgangsformen des Hauses — daß Luther der einen Hälfte der Nation der gepriesene Erretter, der anderen ein Gräuel ist? Noch fern ist die Zeit — doch auch sie wird erscheinen — wo Alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen, den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deut¬ schen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwuth ihn bedeckt. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unse¬ rem großen Könige den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet: kein An¬ derer als Goethe hat das gute Wort gesprochen, Friedrich der Große erst hat durch seine Thaten unsrem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den Stoff geboten für die neu erstandene Dichtung — hören wir ihn reden über die Kunst der Deutschen! Klagen, nichts als Klagen über die form- und zuchtlose Sprache. Klagen, daß unsre Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörter¬ buchs der Akademie eingezwängt sei, daß die Dramen Shakespeares, „würdig der Wilden von Kanada", und die „abscheulichen Plattheiten" des Götz von Ber- lichingen das rohe Volk erfreuen! Sie erstaunen über diesen unerhörten Be¬ weis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntniß der deutschen Dichtung. Aber lesen Sie weiter in derselben Schrift, und zum Herzen wird Ihnen reden die deutsche Empfindung desselben Mannes, der be¬ wegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armuth der Kunst seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung. Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation er¬ wacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden über¬ treffen. Ich bin wie Moses" ruft der König am Ende, „ich sehe das gelobte Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten." Halten Sie neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen — so werden Sie erstaunen, in wie seltsamem Irrthume die Beiden sich verfingen. Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln, und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen * 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/323>, abgerufen am 28.11.2024.