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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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warf: lieber einen große" Papst als diese vielen kleinen -- jener Muth, der
am schneidigsten ans der "ritterlichen Absage" an Götze spricht: "schreiben Sie,
Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, so viel das Zeug halten will; ich schreibe
auch. Wenn ich Ihnen in dein geringsten Dinge, was mich und meinen Un¬
genannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht Recht haben, dann tan" ich die
Feder nicht mehr rühren!" Aber vergleichen Sie selbst die heftigsten dieser
Slleitschriftcu mi! den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche,
und Sie werden mit to.staunen wahrnehmen, daß der deutsche Denker in der
Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form aber jenes edle
M.,ß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsre freien
Geister davor bewahrt Freigeister zu werde" in dem von Lessing gebrandmarkten
Sinne.

U"d läßt sich nicht aus diesem maßvolle" Wesen des Denkers das Räthsel
erklären: warum doch er, der hinwcgschautc über alle geoffenbarten Religionen,
für de" alte" Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen
konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute,
nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Denker
sie auslegt. Jene Union -- belächelt als ein Unding von denen, die an der
Oberfläche der Dinge verweilen -- alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts,
seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigen¬
thum unsres ganzen Volkes zu werben. Auf eine solche Union, die alle kirch¬
lichen Schranken überwunden, auf ein solches "neues Evangelium" deutet das
reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschen¬
geschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was
modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in
die moderne Wissenschaft. Denn lösen Sie ab, was uns befremdet, die para¬
bolische Hülle, so schauen Sie als Kern: eine Philosophie der Geschichte, Sie
hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der
die ganze Welt beseelt, Sie finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der
in den positiven Religionen "den Gang des menschlichen Verstandes" erkennt
und seinen stolz-demüthigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: "Gott hätte
seine Hand bet Allem im Spiele, nur bei unsern Irrthümern nicht?" Wohl
mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen
nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe
und staune.

Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über
das Verständniß seiner, und sollich nicht auch sagen: --> unserer Zeit. Denn
wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Rathaus des
Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die
besten Männer unsres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade thut


warf: lieber einen große» Papst als diese vielen kleinen — jener Muth, der
am schneidigsten ans der „ritterlichen Absage" an Götze spricht: „schreiben Sie,
Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, so viel das Zeug halten will; ich schreibe
auch. Wenn ich Ihnen in dein geringsten Dinge, was mich und meinen Un¬
genannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht Recht haben, dann tan» ich die
Feder nicht mehr rühren!" Aber vergleichen Sie selbst die heftigsten dieser
Slleitschriftcu mi! den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche,
und Sie werden mit to.staunen wahrnehmen, daß der deutsche Denker in der
Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form aber jenes edle
M.,ß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsre freien
Geister davor bewahrt Freigeister zu werde» in dem von Lessing gebrandmarkten
Sinne.

U»d läßt sich nicht aus diesem maßvolle» Wesen des Denkers das Räthsel
erklären: warum doch er, der hinwcgschautc über alle geoffenbarten Religionen,
für de» alte» Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen
konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute,
nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Denker
sie auslegt. Jene Union — belächelt als ein Unding von denen, die an der
Oberfläche der Dinge verweilen — alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts,
seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigen¬
thum unsres ganzen Volkes zu werben. Auf eine solche Union, die alle kirch¬
lichen Schranken überwunden, auf ein solches „neues Evangelium" deutet das
reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschen¬
geschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was
modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in
die moderne Wissenschaft. Denn lösen Sie ab, was uns befremdet, die para¬
bolische Hülle, so schauen Sie als Kern: eine Philosophie der Geschichte, Sie
hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der
die ganze Welt beseelt, Sie finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der
in den positiven Religionen „den Gang des menschlichen Verstandes" erkennt
und seinen stolz-demüthigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: „Gott hätte
seine Hand bet Allem im Spiele, nur bei unsern Irrthümern nicht?" Wohl
mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen
nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe
und staune.

Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über
das Verständniß seiner, und sollich nicht auch sagen: —> unserer Zeit. Denn
wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Rathaus des
Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die
besten Männer unsres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade thut


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[0318] warf: lieber einen große» Papst als diese vielen kleinen — jener Muth, der am schneidigsten ans der „ritterlichen Absage" an Götze spricht: „schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, so viel das Zeug halten will; ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dein geringsten Dinge, was mich und meinen Un¬ genannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht Recht haben, dann tan» ich die Feder nicht mehr rühren!" Aber vergleichen Sie selbst die heftigsten dieser Slleitschriftcu mi! den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche, und Sie werden mit to.staunen wahrnehmen, daß der deutsche Denker in der Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form aber jenes edle M.,ß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsre freien Geister davor bewahrt Freigeister zu werde» in dem von Lessing gebrandmarkten Sinne. U»d läßt sich nicht aus diesem maßvolle» Wesen des Denkers das Räthsel erklären: warum doch er, der hinwcgschautc über alle geoffenbarten Religionen, für de» alte» Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute, nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Denker sie auslegt. Jene Union — belächelt als ein Unding von denen, die an der Oberfläche der Dinge verweilen — alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts, seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigen¬ thum unsres ganzen Volkes zu werben. Auf eine solche Union, die alle kirch¬ lichen Schranken überwunden, auf ein solches „neues Evangelium" deutet das reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschen¬ geschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in die moderne Wissenschaft. Denn lösen Sie ab, was uns befremdet, die para¬ bolische Hülle, so schauen Sie als Kern: eine Philosophie der Geschichte, Sie hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der die ganze Welt beseelt, Sie finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der in den positiven Religionen „den Gang des menschlichen Verstandes" erkennt und seinen stolz-demüthigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: „Gott hätte seine Hand bet Allem im Spiele, nur bei unsern Irrthümern nicht?" Wohl mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe und staune. Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über das Verständniß seiner, und sollich nicht auch sagen: —> unserer Zeit. Denn wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Rathaus des Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die besten Männer unsres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade thut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/318>, abgerufen am 28.07.2024.