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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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zu würdigen weiß. Welchen Schrecke!, mußte es in ängstliche Gemüther werfen,
daß ein Dichter die sittliche Fäulnis) der Mächtigen auf der Bühne erscheinen
ließ wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimath ein prunkendes
Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Mätresse des Landesherrn erHoden
war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu ver¬
knüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heidin die Hörer
erschüttern, nur "eine bürgerliche Virginia" schaffen wollte, so hat seitdem die
Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das
Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und
denkt dabei nicht an das gräßliche aprös nous 1s äewgk? Wer sieht nicht hin¬
ter den Gestalten Marincllis und der Orsina die Schreckensmänner der Revo¬
lution emporsteigen?

Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen
Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den
Deutschen der Muth zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen.
Eigene Werte der Dichtung waren unsrem Volke geschenkt, welche, in die eine
Schale geworfen, alle Glorie der französischen Dramatik in der andern himmel¬
hoch emporschnellten. Das Kunstvcrständniß endlich unsres Volks ward geläu¬
tert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermi¬
schung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der
Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und
noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder
wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah
Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit
Stolz, ja mit Uebermuth wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen.

Wer darf sagen, nach welcher Richtung Lessing am tiefsten gewirkt? Auch
durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist er ein Bahnbrecher der
gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden
von sich gewiesen, er sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Um¬
bildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des
Glaubens auf die heilige Schrift, sie selber war eine neue Knechtschaft geworden.
Lessing erst erkannte in den Schriften des Neuen Bundes den Beleg, nicht die
Quelle des christlichen Glaubens und leitete also aus den Weg, den die wissen-
schaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu
war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter
Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besun¬
gen, im Stillen an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider
den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Muth, herauszusprechen, was
Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den "kleinen
Päpsten", denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochne Wort engegen-


zu würdigen weiß. Welchen Schrecke!, mußte es in ängstliche Gemüther werfen,
daß ein Dichter die sittliche Fäulnis) der Mächtigen auf der Bühne erscheinen
ließ wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimath ein prunkendes
Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Mätresse des Landesherrn erHoden
war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu ver¬
knüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heidin die Hörer
erschüttern, nur „eine bürgerliche Virginia" schaffen wollte, so hat seitdem die
Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das
Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und
denkt dabei nicht an das gräßliche aprös nous 1s äewgk? Wer sieht nicht hin¬
ter den Gestalten Marincllis und der Orsina die Schreckensmänner der Revo¬
lution emporsteigen?

Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen
Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den
Deutschen der Muth zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen.
Eigene Werte der Dichtung waren unsrem Volke geschenkt, welche, in die eine
Schale geworfen, alle Glorie der französischen Dramatik in der andern himmel¬
hoch emporschnellten. Das Kunstvcrständniß endlich unsres Volks ward geläu¬
tert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermi¬
schung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der
Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und
noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder
wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah
Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit
Stolz, ja mit Uebermuth wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen.

Wer darf sagen, nach welcher Richtung Lessing am tiefsten gewirkt? Auch
durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist er ein Bahnbrecher der
gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden
von sich gewiesen, er sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Um¬
bildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des
Glaubens auf die heilige Schrift, sie selber war eine neue Knechtschaft geworden.
Lessing erst erkannte in den Schriften des Neuen Bundes den Beleg, nicht die
Quelle des christlichen Glaubens und leitete also aus den Weg, den die wissen-
schaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu
war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter
Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besun¬
gen, im Stillen an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider
den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Muth, herauszusprechen, was
Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den „kleinen
Päpsten", denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochne Wort engegen-


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[0317] zu würdigen weiß. Welchen Schrecke!, mußte es in ängstliche Gemüther werfen, daß ein Dichter die sittliche Fäulnis) der Mächtigen auf der Bühne erscheinen ließ wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimath ein prunkendes Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Mätresse des Landesherrn erHoden war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu ver¬ knüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heidin die Hörer erschüttern, nur „eine bürgerliche Virginia" schaffen wollte, so hat seitdem die Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und denkt dabei nicht an das gräßliche aprös nous 1s äewgk? Wer sieht nicht hin¬ ter den Gestalten Marincllis und der Orsina die Schreckensmänner der Revo¬ lution emporsteigen? Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den Deutschen der Muth zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen. Eigene Werte der Dichtung waren unsrem Volke geschenkt, welche, in die eine Schale geworfen, alle Glorie der französischen Dramatik in der andern himmel¬ hoch emporschnellten. Das Kunstvcrständniß endlich unsres Volks ward geläu¬ tert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermi¬ schung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit Stolz, ja mit Uebermuth wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen. Wer darf sagen, nach welcher Richtung Lessing am tiefsten gewirkt? Auch durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist er ein Bahnbrecher der gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden von sich gewiesen, er sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Um¬ bildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des Glaubens auf die heilige Schrift, sie selber war eine neue Knechtschaft geworden. Lessing erst erkannte in den Schriften des Neuen Bundes den Beleg, nicht die Quelle des christlichen Glaubens und leitete also aus den Weg, den die wissen- schaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besun¬ gen, im Stillen an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Muth, herauszusprechen, was Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den „kleinen Päpsten", denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochne Wort engegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/317>, abgerufen am 25.11.2024.