Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm-- mit Goethe
zu reden -- ein Werk schuf von specifisch nationalem Gehalt. Hier klingt etwas
wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel
der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon von den Fenstern
von Se. Afra gehört. Wie lange hatten unsre Dichter, wenn sie die Form
suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich
hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangen¬
heit, die so nie gewesen ist, "aus des Sittenspruchs geborgten Stelzen steigen"
lassen. Hier endlich wagte ein Dichter das Gemüth der Gegenwart dramatisch
zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in
der Breite der komischen Scenen, und ebendarum ein Werk für alle Zeiten.
Denn wie das Erzbild in freier Luft im Laus der Jahre sich verschönt, so
haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende
einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Wie der Gott aus der Maschine
tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort
die erregten Gemüther versöhnend.

Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti. Denn sicherlich,
nicht allein des Kunstwerks haben Sie sich erfreut, das, nach Goethe, "gleich der
heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gcllertschen, Wasserfluth empor¬
stieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen". Keiner unter
Ihnen, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbniß
aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe
der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unsres Volkes seitdem herzhafter
und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien
Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum
schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen todt? -- und ich fürchte nicht, daß
Sie dies Wort belächeln werden. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit
Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute "wenn sie
von Niemandem getheilt würde", fassen wir den Muth, unbekümmert um literar¬
historische Pedanten, zu bekennen was wir fühlen, so werden Sie Alle gestehen:
wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache das mißhandelte
geliebte Kind opfert, statt den frechen Dränger zu tödten. Angeekelt von dem
falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor Allem die Leiden¬
schaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille
wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg und wenn es ihm unfehl¬
bar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht
immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch
ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit
des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so
bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr


Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm— mit Goethe
zu reden — ein Werk schuf von specifisch nationalem Gehalt. Hier klingt etwas
wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel
der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon von den Fenstern
von Se. Afra gehört. Wie lange hatten unsre Dichter, wenn sie die Form
suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich
hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangen¬
heit, die so nie gewesen ist, „aus des Sittenspruchs geborgten Stelzen steigen"
lassen. Hier endlich wagte ein Dichter das Gemüth der Gegenwart dramatisch
zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in
der Breite der komischen Scenen, und ebendarum ein Werk für alle Zeiten.
Denn wie das Erzbild in freier Luft im Laus der Jahre sich verschönt, so
haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende
einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Wie der Gott aus der Maschine
tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort
die erregten Gemüther versöhnend.

Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti. Denn sicherlich,
nicht allein des Kunstwerks haben Sie sich erfreut, das, nach Goethe, „gleich der
heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gcllertschen, Wasserfluth empor¬
stieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen". Keiner unter
Ihnen, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbniß
aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe
der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unsres Volkes seitdem herzhafter
und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien
Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum
schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen todt? — und ich fürchte nicht, daß
Sie dies Wort belächeln werden. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit
Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute „wenn sie
von Niemandem getheilt würde", fassen wir den Muth, unbekümmert um literar¬
historische Pedanten, zu bekennen was wir fühlen, so werden Sie Alle gestehen:
wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache das mißhandelte
geliebte Kind opfert, statt den frechen Dränger zu tödten. Angeekelt von dem
falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor Allem die Leiden¬
schaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille
wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg und wenn es ihm unfehl¬
bar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht
immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch
ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit
des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so
bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0316" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187810"/>
          <p xml:id="ID_1180" prev="#ID_1179"> Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm&#x2014; mit Goethe<lb/>
zu reden &#x2014; ein Werk schuf von specifisch nationalem Gehalt. Hier klingt etwas<lb/>
wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel<lb/>
der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon von den Fenstern<lb/>
von Se. Afra gehört. Wie lange hatten unsre Dichter, wenn sie die Form<lb/>
suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich<lb/>
hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangen¬<lb/>
heit, die so nie gewesen ist, &#x201E;aus des Sittenspruchs geborgten Stelzen steigen"<lb/>
lassen. Hier endlich wagte ein Dichter das Gemüth der Gegenwart dramatisch<lb/>
zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in<lb/>
der Breite der komischen Scenen, und ebendarum ein Werk für alle Zeiten.<lb/>
Denn wie das Erzbild in freier Luft im Laus der Jahre sich verschönt, so<lb/>
haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende<lb/>
einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Wie der Gott aus der Maschine<lb/>
tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort<lb/>
die erregten Gemüther versöhnend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181" next="#ID_1182"> Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti. Denn sicherlich,<lb/>
nicht allein des Kunstwerks haben Sie sich erfreut, das, nach Goethe, &#x201E;gleich der<lb/>
heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gcllertschen, Wasserfluth empor¬<lb/>
stieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen". Keiner unter<lb/>
Ihnen, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbniß<lb/>
aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe<lb/>
der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unsres Volkes seitdem herzhafter<lb/>
und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien<lb/>
Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum<lb/>
schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen todt? &#x2014; und ich fürchte nicht, daß<lb/>
Sie dies Wort belächeln werden. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit<lb/>
Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute &#x201E;wenn sie<lb/>
von Niemandem getheilt würde", fassen wir den Muth, unbekümmert um literar¬<lb/>
historische Pedanten, zu bekennen was wir fühlen, so werden Sie Alle gestehen:<lb/>
wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache das mißhandelte<lb/>
geliebte Kind opfert, statt den frechen Dränger zu tödten. Angeekelt von dem<lb/>
falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor Allem die Leiden¬<lb/>
schaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille<lb/>
wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg und wenn es ihm unfehl¬<lb/>
bar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht<lb/>
immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch<lb/>
ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit<lb/>
des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so<lb/>
bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0316] Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm— mit Goethe zu reden — ein Werk schuf von specifisch nationalem Gehalt. Hier klingt etwas wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon von den Fenstern von Se. Afra gehört. Wie lange hatten unsre Dichter, wenn sie die Form suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangen¬ heit, die so nie gewesen ist, „aus des Sittenspruchs geborgten Stelzen steigen" lassen. Hier endlich wagte ein Dichter das Gemüth der Gegenwart dramatisch zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in der Breite der komischen Scenen, und ebendarum ein Werk für alle Zeiten. Denn wie das Erzbild in freier Luft im Laus der Jahre sich verschönt, so haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Wie der Gott aus der Maschine tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort die erregten Gemüther versöhnend. Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti. Denn sicherlich, nicht allein des Kunstwerks haben Sie sich erfreut, das, nach Goethe, „gleich der heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gcllertschen, Wasserfluth empor¬ stieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen". Keiner unter Ihnen, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbniß aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unsres Volkes seitdem herzhafter und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen todt? — und ich fürchte nicht, daß Sie dies Wort belächeln werden. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute „wenn sie von Niemandem getheilt würde", fassen wir den Muth, unbekümmert um literar¬ historische Pedanten, zu bekennen was wir fühlen, so werden Sie Alle gestehen: wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache das mißhandelte geliebte Kind opfert, statt den frechen Dränger zu tödten. Angeekelt von dem falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor Allem die Leiden¬ schaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg und wenn es ihm unfehl¬ bar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/316
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/316>, abgerufen am 28.07.2024.