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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Sollte also Michelangelo zum Mittelpunkt seiner Zeit gemacht werden,
-- und in gewissem Sinne ist dies allerdings die Aufgabe des Biographen
-- so war hierzu ein Standpunkt erforderlich, der nicht der des reinen Historikers
im engeren Sinne ist; es bedürfte hierzu einer künstlichen Beleuchtung und Grup-
pirung, in welcher eben das Princip der biographischen Kunst besteht. Der
Geschichtschreiber stellt den einzelnen Mann in seinem wirklichen Verhältniß zu
Zeit und Umgebung dar; er thut dies, indem er sich auf eine bestimmte Ent¬
fernung stellt, in welcher für ihn innerhalb des Gesichtskreises, den er über¬
sieht, das Einzelne im richtigen gegenseitigen Verhältniß steht. Der Biograph
dagegen stellt sich mit Absicht in die Nähe des Gegenstandes, den er heraus¬
greift, und setzt ihn noch überdies auf ein Postament, um ihn von allen Sei¬
ten betrachten zu können. Alles Andere aber, was den Gegenstand als dessen
Lebenselement umgibt, wird sich von hier aus perspektivisch abstufen. Es ver¬
liert dadurch nichts von seiner Bedeutung, aber es ist nun ein Mittelpunkt da,
auf welchen das volle Licht fällt, gegen den das Andere je nach Verhältniß
zurücktritt, und der immer wieder von selbst seine Anziehungskraft ausübt,
wenn auch der Blick abwechselnd die Ferne durchmißt. Der Schein, als stehe
diese Figur nun wirklich beherrschend im Mittelpunkt, ist allerdings eine Illu¬
sion, aber er ist berechtigt, weil man an jede einzelne Figur einen ähnlichen
Maßstab anlegen kann, er ist keine künstliche Verschiebung, er ist nicht unwahr,
so wenig als die Gesetze der Perspektive unwahr sind.

Dieser beherrschende Mittelpunkt nun, auf den sich alles Andere zurück¬
bezieht, ist es, den wir vermissen. Das Interesse wird.zerstreut, indem auf je¬
den einzelnen Punkt, den der Gang der Erzählung berührt, ein zu volles Licht
fallt. Gerade ein besonderer Vorzug von Grimms Darstellung wird in dieser
Beziehung verhängnißvoll, nämlich die lebendige drastische Erzählung. Indem
Alles, auch das Beiwerk mit größter Lebendigkeit erzählt wird, tritt es mit
dem Anspruch auf, daß es um seiner selbst willen da sei; es fesselt viel zu sehr
für sich, anstatt nur ein Moment in der Biographie zu sein, die sich nun ein¬
mal um den einen Helden drehen soll.

Das Gesammtbild des Künstlers, das doch des Ganzen Resultat sein soll,
ist jeden Augenblick unterbrochen. Der Leser muß es aus den einzelnen Stü¬
cken sich selbst zusammensetzen, anstatt daß es der Biograph vor ihm aufbaut.
Die Erlebnisse Michelangelos sind wie eingeengt durch die Masse des Stoff¬
lichen, das von allen Seiten herandrängt, und diese Wirkung ist um so un¬
vermeidlicher, je bunter dieses Stoffliche seinem Inhalt nach ist. In dieser
Beziehung hat der Verfasser demjenigen, was wir oben das Verführerische in
dem Gegenstand mit seinen reichen Beziehungen nach allen Seiten nannten, zu
sehr nachgegeben. Der wahre Geschichtschreiber zeigt sich auch in der Be¬
schränkung. Grimms Buch aber macht zuweilen den Eindruck, als ob er alle


Grciijboten I. 1863. 38

Sollte also Michelangelo zum Mittelpunkt seiner Zeit gemacht werden,
— und in gewissem Sinne ist dies allerdings die Aufgabe des Biographen
— so war hierzu ein Standpunkt erforderlich, der nicht der des reinen Historikers
im engeren Sinne ist; es bedürfte hierzu einer künstlichen Beleuchtung und Grup-
pirung, in welcher eben das Princip der biographischen Kunst besteht. Der
Geschichtschreiber stellt den einzelnen Mann in seinem wirklichen Verhältniß zu
Zeit und Umgebung dar; er thut dies, indem er sich auf eine bestimmte Ent¬
fernung stellt, in welcher für ihn innerhalb des Gesichtskreises, den er über¬
sieht, das Einzelne im richtigen gegenseitigen Verhältniß steht. Der Biograph
dagegen stellt sich mit Absicht in die Nähe des Gegenstandes, den er heraus¬
greift, und setzt ihn noch überdies auf ein Postament, um ihn von allen Sei¬
ten betrachten zu können. Alles Andere aber, was den Gegenstand als dessen
Lebenselement umgibt, wird sich von hier aus perspektivisch abstufen. Es ver¬
liert dadurch nichts von seiner Bedeutung, aber es ist nun ein Mittelpunkt da,
auf welchen das volle Licht fällt, gegen den das Andere je nach Verhältniß
zurücktritt, und der immer wieder von selbst seine Anziehungskraft ausübt,
wenn auch der Blick abwechselnd die Ferne durchmißt. Der Schein, als stehe
diese Figur nun wirklich beherrschend im Mittelpunkt, ist allerdings eine Illu¬
sion, aber er ist berechtigt, weil man an jede einzelne Figur einen ähnlichen
Maßstab anlegen kann, er ist keine künstliche Verschiebung, er ist nicht unwahr,
so wenig als die Gesetze der Perspektive unwahr sind.

Dieser beherrschende Mittelpunkt nun, auf den sich alles Andere zurück¬
bezieht, ist es, den wir vermissen. Das Interesse wird.zerstreut, indem auf je¬
den einzelnen Punkt, den der Gang der Erzählung berührt, ein zu volles Licht
fallt. Gerade ein besonderer Vorzug von Grimms Darstellung wird in dieser
Beziehung verhängnißvoll, nämlich die lebendige drastische Erzählung. Indem
Alles, auch das Beiwerk mit größter Lebendigkeit erzählt wird, tritt es mit
dem Anspruch auf, daß es um seiner selbst willen da sei; es fesselt viel zu sehr
für sich, anstatt nur ein Moment in der Biographie zu sein, die sich nun ein¬
mal um den einen Helden drehen soll.

Das Gesammtbild des Künstlers, das doch des Ganzen Resultat sein soll,
ist jeden Augenblick unterbrochen. Der Leser muß es aus den einzelnen Stü¬
cken sich selbst zusammensetzen, anstatt daß es der Biograph vor ihm aufbaut.
Die Erlebnisse Michelangelos sind wie eingeengt durch die Masse des Stoff¬
lichen, das von allen Seiten herandrängt, und diese Wirkung ist um so un¬
vermeidlicher, je bunter dieses Stoffliche seinem Inhalt nach ist. In dieser
Beziehung hat der Verfasser demjenigen, was wir oben das Verführerische in
dem Gegenstand mit seinen reichen Beziehungen nach allen Seiten nannten, zu
sehr nachgegeben. Der wahre Geschichtschreiber zeigt sich auch in der Be¬
schränkung. Grimms Buch aber macht zuweilen den Eindruck, als ob er alle


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[0305] Sollte also Michelangelo zum Mittelpunkt seiner Zeit gemacht werden, — und in gewissem Sinne ist dies allerdings die Aufgabe des Biographen — so war hierzu ein Standpunkt erforderlich, der nicht der des reinen Historikers im engeren Sinne ist; es bedürfte hierzu einer künstlichen Beleuchtung und Grup- pirung, in welcher eben das Princip der biographischen Kunst besteht. Der Geschichtschreiber stellt den einzelnen Mann in seinem wirklichen Verhältniß zu Zeit und Umgebung dar; er thut dies, indem er sich auf eine bestimmte Ent¬ fernung stellt, in welcher für ihn innerhalb des Gesichtskreises, den er über¬ sieht, das Einzelne im richtigen gegenseitigen Verhältniß steht. Der Biograph dagegen stellt sich mit Absicht in die Nähe des Gegenstandes, den er heraus¬ greift, und setzt ihn noch überdies auf ein Postament, um ihn von allen Sei¬ ten betrachten zu können. Alles Andere aber, was den Gegenstand als dessen Lebenselement umgibt, wird sich von hier aus perspektivisch abstufen. Es ver¬ liert dadurch nichts von seiner Bedeutung, aber es ist nun ein Mittelpunkt da, auf welchen das volle Licht fällt, gegen den das Andere je nach Verhältniß zurücktritt, und der immer wieder von selbst seine Anziehungskraft ausübt, wenn auch der Blick abwechselnd die Ferne durchmißt. Der Schein, als stehe diese Figur nun wirklich beherrschend im Mittelpunkt, ist allerdings eine Illu¬ sion, aber er ist berechtigt, weil man an jede einzelne Figur einen ähnlichen Maßstab anlegen kann, er ist keine künstliche Verschiebung, er ist nicht unwahr, so wenig als die Gesetze der Perspektive unwahr sind. Dieser beherrschende Mittelpunkt nun, auf den sich alles Andere zurück¬ bezieht, ist es, den wir vermissen. Das Interesse wird.zerstreut, indem auf je¬ den einzelnen Punkt, den der Gang der Erzählung berührt, ein zu volles Licht fallt. Gerade ein besonderer Vorzug von Grimms Darstellung wird in dieser Beziehung verhängnißvoll, nämlich die lebendige drastische Erzählung. Indem Alles, auch das Beiwerk mit größter Lebendigkeit erzählt wird, tritt es mit dem Anspruch auf, daß es um seiner selbst willen da sei; es fesselt viel zu sehr für sich, anstatt nur ein Moment in der Biographie zu sein, die sich nun ein¬ mal um den einen Helden drehen soll. Das Gesammtbild des Künstlers, das doch des Ganzen Resultat sein soll, ist jeden Augenblick unterbrochen. Der Leser muß es aus den einzelnen Stü¬ cken sich selbst zusammensetzen, anstatt daß es der Biograph vor ihm aufbaut. Die Erlebnisse Michelangelos sind wie eingeengt durch die Masse des Stoff¬ lichen, das von allen Seiten herandrängt, und diese Wirkung ist um so un¬ vermeidlicher, je bunter dieses Stoffliche seinem Inhalt nach ist. In dieser Beziehung hat der Verfasser demjenigen, was wir oben das Verführerische in dem Gegenstand mit seinen reichen Beziehungen nach allen Seiten nannten, zu sehr nachgegeben. Der wahre Geschichtschreiber zeigt sich auch in der Be¬ schränkung. Grimms Buch aber macht zuweilen den Eindruck, als ob er alle Grciijboten I. 1863. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/305>, abgerufen am 24.11.2024.