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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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bald die Anfänge der deutschen Reformation vor uns vorüberziehen, schildert
hier eine blutige Schlacht, dort einen üppigen Hof, um dann wieder zu
einem fein ausgeführten Künstlcrporträt oder an das Malergerüft Michel¬
angelos selbst zurückzuführen -- und dies Alles in rastloser Durchkreuzung und
Unterbrechung; immer wieder reißt der Faden ab, um später gelegentlich wieder
angeknüpft zu werden.

Es ist nun nicht zu läugnen, die Erzählung ist immer spannend und geist¬
voll, auch die Anordnung des Stoffs zeigt künstlerisches Verständniß. Man
kann nicht sagen, daß der Eindruck ein verwirrender ist, wenigstens für den, der
mit der Geschichte des Jahrhunderts bereits vertraut ist. Aber Eines leidet
unter dieser Form der Darstellung doch Noth, und dies ist die Persönlichkeit
Michelangelos selbst.

Michelangelo greift nämlich nicht in solcher Weise in die geistige und po¬
litische Bewegung seiner Zeit ein, daß sein Leben von selbst ein natürlicher
Mittelpunkt derselben wäre; kaum für seine künstlerische Bedeutung trifft dies
zu, wenigstens erst in seinen späteren Jahren. Er erscheint der ihn umgeben¬
den Welt gegenüber überhaupt weit weniger activ, als vielmehr passiv, er ist
in seinem Leben wie in seiner geistigen Entwicklung weit mehr durch sie be¬
stimmt, als er ihr -- wiederum mit Ausnahme der Kunst -- zurückgibt. Wie
wenig ist uns zum Beispiel aus Anlaß der Belagerung von Florenz im Jahre
1529 von der Theilnahme Michelangelos Authentisches überliefert worden.
Wir wissen, daß er als Obercommissär der Befestigungsarbeiten allerdings eine
bedeutende Rolle dabei spielte, und lassen uns darum die ausführliche Beschreibung
der Belagerung ganz gern gefallen, weil wir wissein dies war die Luft, die er
damals einsog, die Scenen, die er mit ansah, das Pathos, das ihn erfüllte.
Aber wie sehr tritt doch seine Persönlichkeit zurück in den Dienst des all¬
gemeinen Ganzen? Und so ist es überall. Wir wissen, daß er Mitglied der
platonischen Akademie, daß er ein Anhänger Savonaroias war, daß er mit
Victoria Colonna über das Dogma der Rechtfertigung durch den Glauben
grübelte, daß er in die politischen Stürme seiner Vaterstadt mit dem Herzen
wie mit der That verwickelt war. Aber es sind fast nur zerstreute zufällige
Notizen, die uns davon Kunde geben. In keiner dieser Beziehungen greift er
mit einer Selbständigkeit ein, die namhafte Spuren zurückgelassen hätte. Wir
verstehen Michelangelo 'nicht, wenn nur nicht allen jenen Beziehungen nach¬
gehen, aber wir können diese erschöpfend verstehen, ohne von Michelangelo
Notiz zu nehmen. In einer allgemeinen Geschichte der Zeit würde es nur stören,
wenn immer wieder das eine Bild dieses Künstlers auftauchte, aber umgekehrt
stört es in einer Darstellung, deren Mittelpunkt Michelangelo ist und sein soll,
wenn die übrigen weltgeschichtlichen Potenzen gleichsam in ihrer natürlichen
Größe aufgerückt werden, in welcher sie den einzelnen Mann erdrücken müsse".


bald die Anfänge der deutschen Reformation vor uns vorüberziehen, schildert
hier eine blutige Schlacht, dort einen üppigen Hof, um dann wieder zu
einem fein ausgeführten Künstlcrporträt oder an das Malergerüft Michel¬
angelos selbst zurückzuführen — und dies Alles in rastloser Durchkreuzung und
Unterbrechung; immer wieder reißt der Faden ab, um später gelegentlich wieder
angeknüpft zu werden.

Es ist nun nicht zu läugnen, die Erzählung ist immer spannend und geist¬
voll, auch die Anordnung des Stoffs zeigt künstlerisches Verständniß. Man
kann nicht sagen, daß der Eindruck ein verwirrender ist, wenigstens für den, der
mit der Geschichte des Jahrhunderts bereits vertraut ist. Aber Eines leidet
unter dieser Form der Darstellung doch Noth, und dies ist die Persönlichkeit
Michelangelos selbst.

Michelangelo greift nämlich nicht in solcher Weise in die geistige und po¬
litische Bewegung seiner Zeit ein, daß sein Leben von selbst ein natürlicher
Mittelpunkt derselben wäre; kaum für seine künstlerische Bedeutung trifft dies
zu, wenigstens erst in seinen späteren Jahren. Er erscheint der ihn umgeben¬
den Welt gegenüber überhaupt weit weniger activ, als vielmehr passiv, er ist
in seinem Leben wie in seiner geistigen Entwicklung weit mehr durch sie be¬
stimmt, als er ihr — wiederum mit Ausnahme der Kunst — zurückgibt. Wie
wenig ist uns zum Beispiel aus Anlaß der Belagerung von Florenz im Jahre
1529 von der Theilnahme Michelangelos Authentisches überliefert worden.
Wir wissen, daß er als Obercommissär der Befestigungsarbeiten allerdings eine
bedeutende Rolle dabei spielte, und lassen uns darum die ausführliche Beschreibung
der Belagerung ganz gern gefallen, weil wir wissein dies war die Luft, die er
damals einsog, die Scenen, die er mit ansah, das Pathos, das ihn erfüllte.
Aber wie sehr tritt doch seine Persönlichkeit zurück in den Dienst des all¬
gemeinen Ganzen? Und so ist es überall. Wir wissen, daß er Mitglied der
platonischen Akademie, daß er ein Anhänger Savonaroias war, daß er mit
Victoria Colonna über das Dogma der Rechtfertigung durch den Glauben
grübelte, daß er in die politischen Stürme seiner Vaterstadt mit dem Herzen
wie mit der That verwickelt war. Aber es sind fast nur zerstreute zufällige
Notizen, die uns davon Kunde geben. In keiner dieser Beziehungen greift er
mit einer Selbständigkeit ein, die namhafte Spuren zurückgelassen hätte. Wir
verstehen Michelangelo 'nicht, wenn nur nicht allen jenen Beziehungen nach¬
gehen, aber wir können diese erschöpfend verstehen, ohne von Michelangelo
Notiz zu nehmen. In einer allgemeinen Geschichte der Zeit würde es nur stören,
wenn immer wieder das eine Bild dieses Künstlers auftauchte, aber umgekehrt
stört es in einer Darstellung, deren Mittelpunkt Michelangelo ist und sein soll,
wenn die übrigen weltgeschichtlichen Potenzen gleichsam in ihrer natürlichen
Größe aufgerückt werden, in welcher sie den einzelnen Mann erdrücken müsse».


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/304>, abgerufen am 25.11.2024.