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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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dies allerdings el" bedeutsames Licht auf die Stellung, welche Savonarola im
Herzen, ja in der Weltanschauung des Künstlers noch lange nach dem Tode
des Mönchs von San Marco behauptet hat. Höchst anziehend ist ferner die
Conjectur, die aus Anlaß des bekannten Berichts von Meister Franz v. Hol¬
land aufgestellt wird. Meister Franz beschreibt nämlich zwei Zusammenkünfte,
die er mit Michelangelo, Vittoria! Colonna, einem Herrn Lattantio Tolomei
und dem Kanzelredner Fra Ambrosio aus Siena an zwei Sonntagen in der
Kirche San Silvcstro gehabt. Dieser Lattantio Tolomei, vermuthet Grimm,
sei vielmehr Claudio Tolomei, der in dem reformatorischen Kreise, der sich um
Vittoria Colonna bildete, eine Rolle spielte, und Fra Ambrosio sei vielmehr
Fra Bernardino von Siena, d. h. kein anderer als Bernard Occhino selbst ge¬
wesen. Allerdings würde dadurch dies Zusammensein, dessen Beschreibung
zugleich für den Verkehr 'Michelangelos - mit Vittoria Colonna für jetzt die
wichtigste Quelle ist, eine erhöhte Bedeutung gewinnen. Mit Recht hat Grimm
den ganzen Bericht seinem Buch einverleibt, es ist nur zu bedauern, daß seine
Nachforschungen nach dem Original erfolglos gewesen sind.

Auch das vielbesprochene Verhältniß Michelangelos zu Raphael ist ein
Punkt, der sich schwer durch stricte Beweismittel erledigen läßt, bei dem viel¬
mehr nach Kenntnißnahme der Acten dem Takt des Geschichtschreibers die
Entscheidung überlassen bleiben muß. Die Zeugnisse lauten zu Ungunsten dieses
Verhältnisses, aber sie sind verdächtig. Sicher ist, daß die Gegnerschaft der
beiden Männer wenigstens mehr ein Austreten ihrer Anhänger wider einander,
als in ihrer eigenen Seele zu Hause gewesen ist. Grimm gibt sich viele Mühe,
ihr Andenken von all den kleinen Flecken zu reinigen, welche in dieser Bezie¬
hung namentlich der geschwätzige Vasari ihnen angehängt hat. Aber es ist
schließlich doch ein ganz allgemeines ideales Motiv, das ihn dabei leitet. Ihre
Feindschaft, meint er, würde gegen ein Naturgesetz verstoßen, das keinen Wider¬
spruch dulde; die Vortrefflichkeit bilde zwischen denen, die sie besitzen, eine
unzerstörbare Gemeinschaft. Allein es scheint mir weder nöthig, an ein so
ideales Princip zu recurriren, noch allzuhohes Gewicht aus den Werth oder
Unwerth der einzelnen überlieferten Züge zu legen. Die Hauptsache wird die
scharfe Charakterisirung der beiden Künstlernaturen sein. Ein tieferes Eindringen
in die Individualität eines jeden wird vollkommen hinreichen, um die Klust,
welche sie thatsächlich trennte, zu erklären, ohne daß hierbei auf den Einen
oder Andern ein besonderer Vorwurf fällt. Sie waren weit gegensätzli¬
chere Naturen als Goethe und Schiller, die Grimm zum Vergleich herbeizieht.
Letztere hatten Berührungspunkte, bei denen gerade ihr innerstes Wesen sich
gegen einander öffnete. Sobald diese einmal gesunden waren, ergab sich der
innigste Verkehr von selbst -- bei' Raphael und Michelangelo wäre dies un¬
denkbar gewesen.


Grenzten I. l86S, 37

dies allerdings el» bedeutsames Licht auf die Stellung, welche Savonarola im
Herzen, ja in der Weltanschauung des Künstlers noch lange nach dem Tode
des Mönchs von San Marco behauptet hat. Höchst anziehend ist ferner die
Conjectur, die aus Anlaß des bekannten Berichts von Meister Franz v. Hol¬
land aufgestellt wird. Meister Franz beschreibt nämlich zwei Zusammenkünfte,
die er mit Michelangelo, Vittoria! Colonna, einem Herrn Lattantio Tolomei
und dem Kanzelredner Fra Ambrosio aus Siena an zwei Sonntagen in der
Kirche San Silvcstro gehabt. Dieser Lattantio Tolomei, vermuthet Grimm,
sei vielmehr Claudio Tolomei, der in dem reformatorischen Kreise, der sich um
Vittoria Colonna bildete, eine Rolle spielte, und Fra Ambrosio sei vielmehr
Fra Bernardino von Siena, d. h. kein anderer als Bernard Occhino selbst ge¬
wesen. Allerdings würde dadurch dies Zusammensein, dessen Beschreibung
zugleich für den Verkehr 'Michelangelos - mit Vittoria Colonna für jetzt die
wichtigste Quelle ist, eine erhöhte Bedeutung gewinnen. Mit Recht hat Grimm
den ganzen Bericht seinem Buch einverleibt, es ist nur zu bedauern, daß seine
Nachforschungen nach dem Original erfolglos gewesen sind.

Auch das vielbesprochene Verhältniß Michelangelos zu Raphael ist ein
Punkt, der sich schwer durch stricte Beweismittel erledigen läßt, bei dem viel¬
mehr nach Kenntnißnahme der Acten dem Takt des Geschichtschreibers die
Entscheidung überlassen bleiben muß. Die Zeugnisse lauten zu Ungunsten dieses
Verhältnisses, aber sie sind verdächtig. Sicher ist, daß die Gegnerschaft der
beiden Männer wenigstens mehr ein Austreten ihrer Anhänger wider einander,
als in ihrer eigenen Seele zu Hause gewesen ist. Grimm gibt sich viele Mühe,
ihr Andenken von all den kleinen Flecken zu reinigen, welche in dieser Bezie¬
hung namentlich der geschwätzige Vasari ihnen angehängt hat. Aber es ist
schließlich doch ein ganz allgemeines ideales Motiv, das ihn dabei leitet. Ihre
Feindschaft, meint er, würde gegen ein Naturgesetz verstoßen, das keinen Wider¬
spruch dulde; die Vortrefflichkeit bilde zwischen denen, die sie besitzen, eine
unzerstörbare Gemeinschaft. Allein es scheint mir weder nöthig, an ein so
ideales Princip zu recurriren, noch allzuhohes Gewicht aus den Werth oder
Unwerth der einzelnen überlieferten Züge zu legen. Die Hauptsache wird die
scharfe Charakterisirung der beiden Künstlernaturen sein. Ein tieferes Eindringen
in die Individualität eines jeden wird vollkommen hinreichen, um die Klust,
welche sie thatsächlich trennte, zu erklären, ohne daß hierbei auf den Einen
oder Andern ein besonderer Vorwurf fällt. Sie waren weit gegensätzli¬
chere Naturen als Goethe und Schiller, die Grimm zum Vergleich herbeizieht.
Letztere hatten Berührungspunkte, bei denen gerade ihr innerstes Wesen sich
gegen einander öffnete. Sobald diese einmal gesunden waren, ergab sich der
innigste Verkehr von selbst — bei' Raphael und Michelangelo wäre dies un¬
denkbar gewesen.


Grenzten I. l86S, 37
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[0297] dies allerdings el» bedeutsames Licht auf die Stellung, welche Savonarola im Herzen, ja in der Weltanschauung des Künstlers noch lange nach dem Tode des Mönchs von San Marco behauptet hat. Höchst anziehend ist ferner die Conjectur, die aus Anlaß des bekannten Berichts von Meister Franz v. Hol¬ land aufgestellt wird. Meister Franz beschreibt nämlich zwei Zusammenkünfte, die er mit Michelangelo, Vittoria! Colonna, einem Herrn Lattantio Tolomei und dem Kanzelredner Fra Ambrosio aus Siena an zwei Sonntagen in der Kirche San Silvcstro gehabt. Dieser Lattantio Tolomei, vermuthet Grimm, sei vielmehr Claudio Tolomei, der in dem reformatorischen Kreise, der sich um Vittoria Colonna bildete, eine Rolle spielte, und Fra Ambrosio sei vielmehr Fra Bernardino von Siena, d. h. kein anderer als Bernard Occhino selbst ge¬ wesen. Allerdings würde dadurch dies Zusammensein, dessen Beschreibung zugleich für den Verkehr 'Michelangelos - mit Vittoria Colonna für jetzt die wichtigste Quelle ist, eine erhöhte Bedeutung gewinnen. Mit Recht hat Grimm den ganzen Bericht seinem Buch einverleibt, es ist nur zu bedauern, daß seine Nachforschungen nach dem Original erfolglos gewesen sind. Auch das vielbesprochene Verhältniß Michelangelos zu Raphael ist ein Punkt, der sich schwer durch stricte Beweismittel erledigen läßt, bei dem viel¬ mehr nach Kenntnißnahme der Acten dem Takt des Geschichtschreibers die Entscheidung überlassen bleiben muß. Die Zeugnisse lauten zu Ungunsten dieses Verhältnisses, aber sie sind verdächtig. Sicher ist, daß die Gegnerschaft der beiden Männer wenigstens mehr ein Austreten ihrer Anhänger wider einander, als in ihrer eigenen Seele zu Hause gewesen ist. Grimm gibt sich viele Mühe, ihr Andenken von all den kleinen Flecken zu reinigen, welche in dieser Bezie¬ hung namentlich der geschwätzige Vasari ihnen angehängt hat. Aber es ist schließlich doch ein ganz allgemeines ideales Motiv, das ihn dabei leitet. Ihre Feindschaft, meint er, würde gegen ein Naturgesetz verstoßen, das keinen Wider¬ spruch dulde; die Vortrefflichkeit bilde zwischen denen, die sie besitzen, eine unzerstörbare Gemeinschaft. Allein es scheint mir weder nöthig, an ein so ideales Princip zu recurriren, noch allzuhohes Gewicht aus den Werth oder Unwerth der einzelnen überlieferten Züge zu legen. Die Hauptsache wird die scharfe Charakterisirung der beiden Künstlernaturen sein. Ein tieferes Eindringen in die Individualität eines jeden wird vollkommen hinreichen, um die Klust, welche sie thatsächlich trennte, zu erklären, ohne daß hierbei auf den Einen oder Andern ein besonderer Vorwurf fällt. Sie waren weit gegensätzli¬ chere Naturen als Goethe und Schiller, die Grimm zum Vergleich herbeizieht. Letztere hatten Berührungspunkte, bei denen gerade ihr innerstes Wesen sich gegen einander öffnete. Sobald diese einmal gesunden waren, ergab sich der innigste Verkehr von selbst — bei' Raphael und Michelangelo wäre dies un¬ denkbar gewesen. Grenzten I. l86S, 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/297>, abgerufen am 25.11.2024.