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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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drungen sind, daß sie, um etwas zu sein, erst werden, lernen, an den Vor¬
bildern wachsen müssen. Die Zustände, die wir hier nur berühren können,
wären einer näheren Beachtung werth. Mit der Eilfertigkeit, die wir an dem
Jahrhundert gewohnt sind, ging die neue Kunst, nachdem sie kaum die Kinder¬
schuhe ausgetreten, an die Darstellung einer in bisher ungekannter Weite er¬
schlossenen Stoffwelt, in die sie sich dann auf Zureden einer voreiligen Kriiik
immer tiefer verrannte, ohne sich zu besinnen, ob ihre ungeschickte Hand auch
wohl im Stande wäre, die spröde Materie in den Fluß der Gestaltung zu
- bringen. Wußte der Figurenmaler doch nicht einmal, wie der menschliche
Kopf auf Hals und Schultern sitzt, wie in der Verbindung der Flächen die
Form, in den Uebergängen der Gelenke die Bewegung erscheint, wie der Kör¬
per nur durch die Kraft des innerlichen Baues zusammenhängt. Aber kam es
auch darauf an? Ueber derlei Dinge fühlte sich der Maler durch die Größe
seines Stoffs hinaus.

Man war mit der Antike, wie mit der Kunst des Cinquecento fertig.
Gibt es doch ganze Richtungen, welche geradezu den überlieferten Meisterwerken
den Rücken kehren, um an ihrer Originalität keinen Schaden zu leiden! Arm¬
selige Phantasie, die sich vernichtet glaubt, wenn sie gut sprechen lernt, weil
sie dann nur noch nachplappern konnte! -- Aber auch diejenigen, welche es
noch der Mühe werth halten, an die Beschäftigung mit der alten Kunst ein
paar Jahre zu wenden, bleiben an der Oberfläche haften und kommen über
ein halbes, ungefähres Verständniß nicht hinaus. Warum? Weil es an dem
fortlaufenden Zusammenhang der Schulen fehlt, an dem Verhältniß von Mei¬
stern und Jüngern, an der richtigen Ueberlieferung, welche fortschreitend von
dem älteren zum jüngeren Geschlechte immer tiefer in das Wesen der Kunst ein¬
dringen würde. Von einer eigentlichen Schule, wie sie fast jeder Maler des,
Cinquecento durchgemacht hat, zeigt uns die junge Kunst in Deutschland viel¬
leicht nicht ein Beispiel. Was der junge Künstler in den dumpfen Stuben der
Akademie gelernt hat, das todte Spiel der Nachahmung unverstandncr Formen,
das schüttelt er ab mit dem ersten Schritt, den er ins Freie thui, falls ihm
ein Rest frischer Phantasie noch geblieben ist; oder er schleppt es zeitlebens als
Maske mit sich, die er allen seinen Gestalten anklebt. So pilgert er mit Kalb
betäubten, statt mit geweckten Sinn nach Italien, macht ein paar Copien,
schüttelt dann, in die Heimath zurückgekehrt, den Staub von den Füßen, damit
seine schwachen Erinnerungen classischer Kunst und wird ein Meister auf
eigene Hand. An einer noch zu bemalenden öffentlichen Wand wird's wohl in
den dreiunddreißig Staaten auch nicht fehle", und Deutschland hat das Glück,
das halbe Hundert Raphaels endlich voll zu sehen.

Daher denn überall das Herumtasten, Probiren, Experimente aller Art,
die verschiedensten Manieren. Die geschlechtslose, hermaphroditische Kunst


drungen sind, daß sie, um etwas zu sein, erst werden, lernen, an den Vor¬
bildern wachsen müssen. Die Zustände, die wir hier nur berühren können,
wären einer näheren Beachtung werth. Mit der Eilfertigkeit, die wir an dem
Jahrhundert gewohnt sind, ging die neue Kunst, nachdem sie kaum die Kinder¬
schuhe ausgetreten, an die Darstellung einer in bisher ungekannter Weite er¬
schlossenen Stoffwelt, in die sie sich dann auf Zureden einer voreiligen Kriiik
immer tiefer verrannte, ohne sich zu besinnen, ob ihre ungeschickte Hand auch
wohl im Stande wäre, die spröde Materie in den Fluß der Gestaltung zu
- bringen. Wußte der Figurenmaler doch nicht einmal, wie der menschliche
Kopf auf Hals und Schultern sitzt, wie in der Verbindung der Flächen die
Form, in den Uebergängen der Gelenke die Bewegung erscheint, wie der Kör¬
per nur durch die Kraft des innerlichen Baues zusammenhängt. Aber kam es
auch darauf an? Ueber derlei Dinge fühlte sich der Maler durch die Größe
seines Stoffs hinaus.

Man war mit der Antike, wie mit der Kunst des Cinquecento fertig.
Gibt es doch ganze Richtungen, welche geradezu den überlieferten Meisterwerken
den Rücken kehren, um an ihrer Originalität keinen Schaden zu leiden! Arm¬
selige Phantasie, die sich vernichtet glaubt, wenn sie gut sprechen lernt, weil
sie dann nur noch nachplappern konnte! — Aber auch diejenigen, welche es
noch der Mühe werth halten, an die Beschäftigung mit der alten Kunst ein
paar Jahre zu wenden, bleiben an der Oberfläche haften und kommen über
ein halbes, ungefähres Verständniß nicht hinaus. Warum? Weil es an dem
fortlaufenden Zusammenhang der Schulen fehlt, an dem Verhältniß von Mei¬
stern und Jüngern, an der richtigen Ueberlieferung, welche fortschreitend von
dem älteren zum jüngeren Geschlechte immer tiefer in das Wesen der Kunst ein¬
dringen würde. Von einer eigentlichen Schule, wie sie fast jeder Maler des,
Cinquecento durchgemacht hat, zeigt uns die junge Kunst in Deutschland viel¬
leicht nicht ein Beispiel. Was der junge Künstler in den dumpfen Stuben der
Akademie gelernt hat, das todte Spiel der Nachahmung unverstandncr Formen,
das schüttelt er ab mit dem ersten Schritt, den er ins Freie thui, falls ihm
ein Rest frischer Phantasie noch geblieben ist; oder er schleppt es zeitlebens als
Maske mit sich, die er allen seinen Gestalten anklebt. So pilgert er mit Kalb
betäubten, statt mit geweckten Sinn nach Italien, macht ein paar Copien,
schüttelt dann, in die Heimath zurückgekehrt, den Staub von den Füßen, damit
seine schwachen Erinnerungen classischer Kunst und wird ein Meister auf
eigene Hand. An einer noch zu bemalenden öffentlichen Wand wird's wohl in
den dreiunddreißig Staaten auch nicht fehle», und Deutschland hat das Glück,
das halbe Hundert Raphaels endlich voll zu sehen.

Daher denn überall das Herumtasten, Probiren, Experimente aller Art,
die verschiedensten Manieren. Die geschlechtslose, hermaphroditische Kunst


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[0254] drungen sind, daß sie, um etwas zu sein, erst werden, lernen, an den Vor¬ bildern wachsen müssen. Die Zustände, die wir hier nur berühren können, wären einer näheren Beachtung werth. Mit der Eilfertigkeit, die wir an dem Jahrhundert gewohnt sind, ging die neue Kunst, nachdem sie kaum die Kinder¬ schuhe ausgetreten, an die Darstellung einer in bisher ungekannter Weite er¬ schlossenen Stoffwelt, in die sie sich dann auf Zureden einer voreiligen Kriiik immer tiefer verrannte, ohne sich zu besinnen, ob ihre ungeschickte Hand auch wohl im Stande wäre, die spröde Materie in den Fluß der Gestaltung zu - bringen. Wußte der Figurenmaler doch nicht einmal, wie der menschliche Kopf auf Hals und Schultern sitzt, wie in der Verbindung der Flächen die Form, in den Uebergängen der Gelenke die Bewegung erscheint, wie der Kör¬ per nur durch die Kraft des innerlichen Baues zusammenhängt. Aber kam es auch darauf an? Ueber derlei Dinge fühlte sich der Maler durch die Größe seines Stoffs hinaus. Man war mit der Antike, wie mit der Kunst des Cinquecento fertig. Gibt es doch ganze Richtungen, welche geradezu den überlieferten Meisterwerken den Rücken kehren, um an ihrer Originalität keinen Schaden zu leiden! Arm¬ selige Phantasie, die sich vernichtet glaubt, wenn sie gut sprechen lernt, weil sie dann nur noch nachplappern konnte! — Aber auch diejenigen, welche es noch der Mühe werth halten, an die Beschäftigung mit der alten Kunst ein paar Jahre zu wenden, bleiben an der Oberfläche haften und kommen über ein halbes, ungefähres Verständniß nicht hinaus. Warum? Weil es an dem fortlaufenden Zusammenhang der Schulen fehlt, an dem Verhältniß von Mei¬ stern und Jüngern, an der richtigen Ueberlieferung, welche fortschreitend von dem älteren zum jüngeren Geschlechte immer tiefer in das Wesen der Kunst ein¬ dringen würde. Von einer eigentlichen Schule, wie sie fast jeder Maler des, Cinquecento durchgemacht hat, zeigt uns die junge Kunst in Deutschland viel¬ leicht nicht ein Beispiel. Was der junge Künstler in den dumpfen Stuben der Akademie gelernt hat, das todte Spiel der Nachahmung unverstandncr Formen, das schüttelt er ab mit dem ersten Schritt, den er ins Freie thui, falls ihm ein Rest frischer Phantasie noch geblieben ist; oder er schleppt es zeitlebens als Maske mit sich, die er allen seinen Gestalten anklebt. So pilgert er mit Kalb betäubten, statt mit geweckten Sinn nach Italien, macht ein paar Copien, schüttelt dann, in die Heimath zurückgekehrt, den Staub von den Füßen, damit seine schwachen Erinnerungen classischer Kunst und wird ein Meister auf eigene Hand. An einer noch zu bemalenden öffentlichen Wand wird's wohl in den dreiunddreißig Staaten auch nicht fehle», und Deutschland hat das Glück, das halbe Hundert Raphaels endlich voll zu sehen. Daher denn überall das Herumtasten, Probiren, Experimente aller Art, die verschiedensten Manieren. Die geschlechtslose, hermaphroditische Kunst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/254>, abgerufen am 28.07.2024.