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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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aller Kunst. Und diese ist es, welche die jüngere Kunst von der älteren zum
freien Gebrauch sich aneignen kann, ohne deshalb an der Selbständigkeit ihrer
Empsindungs- und Vorstellungsweise Schaden zu leiden. So hat die Kunst
der Renaissance zur Antike zurückgegriffen und die unvergängliche, plastische
Anschauungsweise der Alten zum freien, lebendigen Ausdruck ihrer mehr male¬
rischen Phantasie und ihrer Ideenkreise umzubilden gewußt. Die altdeutsche
Kunst freilich mit ihrer fast eigenwilligen Vorliebe für das tiefinnerliche, in sich
verhaltene Leben ist in allmähligen Gange zu ihrer Höhe nur.aus sich selbst
gekommen; aber ihren bald harten, bald phantastischen Gestalten fehlt doch auch
die Freiheit und letzte Vollendung der Schönheit.

Ueber die Art und Weise, wie die jüngere Kunst von der älteren lernen
soll, kann kein Zweifel sein. Nicht um ein Nachahmen der eigenthümlichen
Erscheinungsweise handelt es sich, ebensowenig um ein äußerliches Absehen ge¬
wisser Kunstgriffe und Fertigkeiten, sondern darauf kommt es an, daß die
neue Kunst an der Art sich bilde, wie in den vollendeten Denkmalen der clas¬
sischen Zeiten die natürliche Form und Erscheinung künstlerisch angeschaut, wie
in ihnen die Natur ungetrübt in dem vollen Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft
festgehalten, von innen heraus frei und lebendig bewegt ist. In dieser An¬
schauung und Gestaltung, welche die Natur aus der künstlerischen Phantasie
neu hervorbringt, liegen die ewigen Gesetze der Kunst. Sie machen die Ele-
mente der Bildung aus, welche die junge Kunst sich als die Mittel erwerben
soll, um das, was ihre eigene Phantasie bewegt, zur schönen Erscheinung zu
bringen, um ihre eigene künstlerische Welt aufzubauen. Geht sie auf diese
Weise bei der älteren in die Schule, so versteht sich ganz von selber, daß sie
zugleich mit Ernst und >Liebe die Natur zur Lehrerin nimmt. Die ächte
Rückkehr zu den Alten ist immer zugl eich die zur Natur gewesen. Der Künstler
soll an den Meisterwerken lernen, wie die Natur in mustergültiger Weise auf¬
gefaßt und gestaltet wird: er muß also auch um das Verständniß der Natur
sich ernstlich bemühen.

Daß der Durchgang durch eine solche Schule ein gründliches Studium
voraussetzt, und daß durch dieses allein der Künstler seiner Phantasie die wahre
Freiheit gibt -- das ist eine Bemerkung, die überflüssig scheinen könnte, wenn
nicht gerade in der Mißachtung dieses einfachsten Gesetzes die deutsche Kunst
durch einen knabenhaften Uebermuth sich auszeichnete. Sie gerade hat den
verkehrtesten Weg eingeschlagen. Seit fünfzig Jahren wandert sie über die
Alpen, seit fünfzig Jahren müht sie sich in den Akadcmiesälen an den Gyps-
abgüssen classischer Gestalten ab. Aber es fehlt von vornherein am wahren
Jut"resse. am liebevollen Eingehen, dem Verständniß für die schöne Formen-
welt, die uns bessere Zeiten der Kunst überliefert haben. Es fehlt den jungen
Talenten an der Bescheidenheit tüchtiger Naturen, die von dem Gefühl durch-


aller Kunst. Und diese ist es, welche die jüngere Kunst von der älteren zum
freien Gebrauch sich aneignen kann, ohne deshalb an der Selbständigkeit ihrer
Empsindungs- und Vorstellungsweise Schaden zu leiden. So hat die Kunst
der Renaissance zur Antike zurückgegriffen und die unvergängliche, plastische
Anschauungsweise der Alten zum freien, lebendigen Ausdruck ihrer mehr male¬
rischen Phantasie und ihrer Ideenkreise umzubilden gewußt. Die altdeutsche
Kunst freilich mit ihrer fast eigenwilligen Vorliebe für das tiefinnerliche, in sich
verhaltene Leben ist in allmähligen Gange zu ihrer Höhe nur.aus sich selbst
gekommen; aber ihren bald harten, bald phantastischen Gestalten fehlt doch auch
die Freiheit und letzte Vollendung der Schönheit.

Ueber die Art und Weise, wie die jüngere Kunst von der älteren lernen
soll, kann kein Zweifel sein. Nicht um ein Nachahmen der eigenthümlichen
Erscheinungsweise handelt es sich, ebensowenig um ein äußerliches Absehen ge¬
wisser Kunstgriffe und Fertigkeiten, sondern darauf kommt es an, daß die
neue Kunst an der Art sich bilde, wie in den vollendeten Denkmalen der clas¬
sischen Zeiten die natürliche Form und Erscheinung künstlerisch angeschaut, wie
in ihnen die Natur ungetrübt in dem vollen Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft
festgehalten, von innen heraus frei und lebendig bewegt ist. In dieser An¬
schauung und Gestaltung, welche die Natur aus der künstlerischen Phantasie
neu hervorbringt, liegen die ewigen Gesetze der Kunst. Sie machen die Ele-
mente der Bildung aus, welche die junge Kunst sich als die Mittel erwerben
soll, um das, was ihre eigene Phantasie bewegt, zur schönen Erscheinung zu
bringen, um ihre eigene künstlerische Welt aufzubauen. Geht sie auf diese
Weise bei der älteren in die Schule, so versteht sich ganz von selber, daß sie
zugleich mit Ernst und >Liebe die Natur zur Lehrerin nimmt. Die ächte
Rückkehr zu den Alten ist immer zugl eich die zur Natur gewesen. Der Künstler
soll an den Meisterwerken lernen, wie die Natur in mustergültiger Weise auf¬
gefaßt und gestaltet wird: er muß also auch um das Verständniß der Natur
sich ernstlich bemühen.

Daß der Durchgang durch eine solche Schule ein gründliches Studium
voraussetzt, und daß durch dieses allein der Künstler seiner Phantasie die wahre
Freiheit gibt — das ist eine Bemerkung, die überflüssig scheinen könnte, wenn
nicht gerade in der Mißachtung dieses einfachsten Gesetzes die deutsche Kunst
durch einen knabenhaften Uebermuth sich auszeichnete. Sie gerade hat den
verkehrtesten Weg eingeschlagen. Seit fünfzig Jahren wandert sie über die
Alpen, seit fünfzig Jahren müht sie sich in den Akadcmiesälen an den Gyps-
abgüssen classischer Gestalten ab. Aber es fehlt von vornherein am wahren
Jut»resse. am liebevollen Eingehen, dem Verständniß für die schöne Formen-
welt, die uns bessere Zeiten der Kunst überliefert haben. Es fehlt den jungen
Talenten an der Bescheidenheit tüchtiger Naturen, die von dem Gefühl durch-


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[0253] aller Kunst. Und diese ist es, welche die jüngere Kunst von der älteren zum freien Gebrauch sich aneignen kann, ohne deshalb an der Selbständigkeit ihrer Empsindungs- und Vorstellungsweise Schaden zu leiden. So hat die Kunst der Renaissance zur Antike zurückgegriffen und die unvergängliche, plastische Anschauungsweise der Alten zum freien, lebendigen Ausdruck ihrer mehr male¬ rischen Phantasie und ihrer Ideenkreise umzubilden gewußt. Die altdeutsche Kunst freilich mit ihrer fast eigenwilligen Vorliebe für das tiefinnerliche, in sich verhaltene Leben ist in allmähligen Gange zu ihrer Höhe nur.aus sich selbst gekommen; aber ihren bald harten, bald phantastischen Gestalten fehlt doch auch die Freiheit und letzte Vollendung der Schönheit. Ueber die Art und Weise, wie die jüngere Kunst von der älteren lernen soll, kann kein Zweifel sein. Nicht um ein Nachahmen der eigenthümlichen Erscheinungsweise handelt es sich, ebensowenig um ein äußerliches Absehen ge¬ wisser Kunstgriffe und Fertigkeiten, sondern darauf kommt es an, daß die neue Kunst an der Art sich bilde, wie in den vollendeten Denkmalen der clas¬ sischen Zeiten die natürliche Form und Erscheinung künstlerisch angeschaut, wie in ihnen die Natur ungetrübt in dem vollen Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft festgehalten, von innen heraus frei und lebendig bewegt ist. In dieser An¬ schauung und Gestaltung, welche die Natur aus der künstlerischen Phantasie neu hervorbringt, liegen die ewigen Gesetze der Kunst. Sie machen die Ele- mente der Bildung aus, welche die junge Kunst sich als die Mittel erwerben soll, um das, was ihre eigene Phantasie bewegt, zur schönen Erscheinung zu bringen, um ihre eigene künstlerische Welt aufzubauen. Geht sie auf diese Weise bei der älteren in die Schule, so versteht sich ganz von selber, daß sie zugleich mit Ernst und >Liebe die Natur zur Lehrerin nimmt. Die ächte Rückkehr zu den Alten ist immer zugl eich die zur Natur gewesen. Der Künstler soll an den Meisterwerken lernen, wie die Natur in mustergültiger Weise auf¬ gefaßt und gestaltet wird: er muß also auch um das Verständniß der Natur sich ernstlich bemühen. Daß der Durchgang durch eine solche Schule ein gründliches Studium voraussetzt, und daß durch dieses allein der Künstler seiner Phantasie die wahre Freiheit gibt — das ist eine Bemerkung, die überflüssig scheinen könnte, wenn nicht gerade in der Mißachtung dieses einfachsten Gesetzes die deutsche Kunst durch einen knabenhaften Uebermuth sich auszeichnete. Sie gerade hat den verkehrtesten Weg eingeschlagen. Seit fünfzig Jahren wandert sie über die Alpen, seit fünfzig Jahren müht sie sich in den Akadcmiesälen an den Gyps- abgüssen classischer Gestalten ab. Aber es fehlt von vornherein am wahren Jut»resse. am liebevollen Eingehen, dem Verständniß für die schöne Formen- welt, die uns bessere Zeiten der Kunst überliefert haben. Es fehlt den jungen Talenten an der Bescheidenheit tüchtiger Naturen, die von dem Gefühl durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/253>, abgerufen am 28.07.2024.