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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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hundertarmige Bureaukratie aufmerksam den Puls der öffentlichen Meinung
Frankreichs fühlt, glaubt, daß der Sturz des Papstes in der katholischen Be¬
völkerung eine so gewaltsame Aufregung hervorrufen würde, daß die ergebne
Majorität, deren er zu seinem Scheinconstitutionalismus bedarf, gefährdet sein
könnte. Wenn deshalb erklärt wird, es habe dem Kaiser zweckmäßig geschienen,
das Versöhnungswerk in die Hände von Personen zu legen, welche den bis¬
herigen Erörterungen fern gestanden, so bezeugt dies schwerlich die Zuversicht
Napoleons, daß den Herren Drouin de Lhuys und Latour d'Auvergne ge¬
linge, was den Vorgängern mißlungen. Wenn ihm die Zeit in Rom zu han¬
deln gekommen scheint, so werden sie ebenso andern Personen Platz machen,
wie Thouvenel und Lavalette es jetzt thun mußten. Hat nicht vielleicht im
Hinblick aus eine solche Wendung Lord Russell dem Papste Malta als Asyl
angeboten? Man könnte fragen, warum hat denn der Kaiser nicht den gesetz¬
gebenden Körper vor dem Ablauf seines Mandates aufgelöst? Wir meinen, ein¬
mal weil er die Katholiken erst speciell durch eine dem Papste günstige Politik
beruhigen will, und sodann, weil er die Hände nicht frei hat, in Italien zu
handeln, so lange die mexikanische Expedition nicht beendigt; inzwischen gibt
Persigny für die Wahlen den Präfecten den Befehl, wenn ein Bonapartist
nicht durchzubringen, stets einen demokratischen Candidaten den Klerikalen vor¬
zuziehen. Die ultramontanen Blätter mögen jetzt mit großer Feierlichkeit die
Reformen verkünden, welche der Papst verspricht, Napoleon wird dies nicht
täuschen, er ist sich sicher darüber klar, daß es nur zwei Lösungen für die rö¬
mische Frage gibt, entweder der Papst bleibt in Rom und sein weltlicher
Schutzherr führt die Reformen, die er in dem Briefe an Edgar Ney verlangte,
selbst aus, oder die weltliche Macht fällt, und Rom wird die Hauptstadt Ita¬
liens für neue Concessionen an Frankreich. Für beide Fälle werden die Ita¬
liener durch die Fortdauer ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten mürber gemacht.
Die Eorrespondenz mit dem Turiner Cabinet schließt mit einigen Depeschen,
welche beiderseits den iztatus quo vorläufig annehmen; die Noten Thouvenels
von diesem Sommer dagegen zeigen, wie sehr der Sache Italiens das kopflose
Unternehmen Garibaldis und die ebenso unbesonnene als schwache Politik Ra-
tazzis geschadet hat. Dieser intriguante Mann, der ohne die großen Eigenschaften
Cavours den Ehrgeiz hatte, dessen Werk zu Ende zu führen, stürzte den tüch¬
tigen, vielleicht etwas zu schroffen Ricasoli durch unwürdige Kunstgriffe und
französische Begünstigung. Er glaubte deshalb frei handeln zu können und
verabredete mit Garibaldi eine Schilderhebung in Griechenland, durch welche
die orientalische Frage Oestreich in solche Verlegenheiten bringen sollte, daß
Italien daran könnte, Venedig zu nehmen. Aber Garibaldi ließ sich in Sici-
lien, wo er "och im vollsten Einvernehmen mit den königlichen Prinzen schien,
von Mazziniften bereden, baß Ratazzi ihn täusche, er erhob den Ruf nach Rom,


hundertarmige Bureaukratie aufmerksam den Puls der öffentlichen Meinung
Frankreichs fühlt, glaubt, daß der Sturz des Papstes in der katholischen Be¬
völkerung eine so gewaltsame Aufregung hervorrufen würde, daß die ergebne
Majorität, deren er zu seinem Scheinconstitutionalismus bedarf, gefährdet sein
könnte. Wenn deshalb erklärt wird, es habe dem Kaiser zweckmäßig geschienen,
das Versöhnungswerk in die Hände von Personen zu legen, welche den bis¬
herigen Erörterungen fern gestanden, so bezeugt dies schwerlich die Zuversicht
Napoleons, daß den Herren Drouin de Lhuys und Latour d'Auvergne ge¬
linge, was den Vorgängern mißlungen. Wenn ihm die Zeit in Rom zu han¬
deln gekommen scheint, so werden sie ebenso andern Personen Platz machen,
wie Thouvenel und Lavalette es jetzt thun mußten. Hat nicht vielleicht im
Hinblick aus eine solche Wendung Lord Russell dem Papste Malta als Asyl
angeboten? Man könnte fragen, warum hat denn der Kaiser nicht den gesetz¬
gebenden Körper vor dem Ablauf seines Mandates aufgelöst? Wir meinen, ein¬
mal weil er die Katholiken erst speciell durch eine dem Papste günstige Politik
beruhigen will, und sodann, weil er die Hände nicht frei hat, in Italien zu
handeln, so lange die mexikanische Expedition nicht beendigt; inzwischen gibt
Persigny für die Wahlen den Präfecten den Befehl, wenn ein Bonapartist
nicht durchzubringen, stets einen demokratischen Candidaten den Klerikalen vor¬
zuziehen. Die ultramontanen Blätter mögen jetzt mit großer Feierlichkeit die
Reformen verkünden, welche der Papst verspricht, Napoleon wird dies nicht
täuschen, er ist sich sicher darüber klar, daß es nur zwei Lösungen für die rö¬
mische Frage gibt, entweder der Papst bleibt in Rom und sein weltlicher
Schutzherr führt die Reformen, die er in dem Briefe an Edgar Ney verlangte,
selbst aus, oder die weltliche Macht fällt, und Rom wird die Hauptstadt Ita¬
liens für neue Concessionen an Frankreich. Für beide Fälle werden die Ita¬
liener durch die Fortdauer ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten mürber gemacht.
Die Eorrespondenz mit dem Turiner Cabinet schließt mit einigen Depeschen,
welche beiderseits den iztatus quo vorläufig annehmen; die Noten Thouvenels
von diesem Sommer dagegen zeigen, wie sehr der Sache Italiens das kopflose
Unternehmen Garibaldis und die ebenso unbesonnene als schwache Politik Ra-
tazzis geschadet hat. Dieser intriguante Mann, der ohne die großen Eigenschaften
Cavours den Ehrgeiz hatte, dessen Werk zu Ende zu führen, stürzte den tüch¬
tigen, vielleicht etwas zu schroffen Ricasoli durch unwürdige Kunstgriffe und
französische Begünstigung. Er glaubte deshalb frei handeln zu können und
verabredete mit Garibaldi eine Schilderhebung in Griechenland, durch welche
die orientalische Frage Oestreich in solche Verlegenheiten bringen sollte, daß
Italien daran könnte, Venedig zu nehmen. Aber Garibaldi ließ sich in Sici-
lien, wo er »och im vollsten Einvernehmen mit den königlichen Prinzen schien,
von Mazziniften bereden, baß Ratazzi ihn täusche, er erhob den Ruf nach Rom,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/226>, abgerufen am 28.07.2024.