Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.Knrhessische Briefe. 6. Zuweilen kommt es vor, daß außergewöhnliche Ereignisse, welche noch in Die Geschicke müssen sich erfüllen. Wer die Stadt Kassel und ihre herr¬ Knrhessische Briefe. 6. Zuweilen kommt es vor, daß außergewöhnliche Ereignisse, welche noch in Die Geschicke müssen sich erfüllen. Wer die Stadt Kassel und ihre herr¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187693"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Knrhessische Briefe.</head><lb/> <div n="2"> <head> 6.</head><lb/> <p xml:id="ID_787"> Zuweilen kommt es vor, daß außergewöhnliche Ereignisse, welche noch in<lb/> der Zukunft verborgen liegen, auf eine unerklärliche Weise Visivnenartig sich<lb/> ankündigen. So ging hier, kurz vor dem Zusammentritt der Stände, das Gerücht:<lb/> der Abgeordnete Henkel beabsichtige einen Antrag auf Errichtung einer Regentschaft<lb/> zu stellen. Auch nicht die leiseste Spur einer Thatsache läßt sich ausfindig machen,<lb/> welche zu jenem Gerücht hätte Anlaß geben können. Nichts desto weniger fand<lb/> dasselbe seinen Weg in das Palais und veranlaßte dort eine gewaltige Auf¬<lb/> regung. Erst geraume Zeit später, durch die preußische Feldjägerdepesche, ge¬<lb/> wann jener Gedanke greifbare Gestalt, und jetzt scheint derselbe in allen Vor¬<lb/> kommnissen zu culminiren.</p><lb/> <p xml:id="ID_788" next="#ID_789"> Die Geschicke müssen sich erfüllen. Wer die Stadt Kassel und ihre herr¬<lb/> liche Umgebung kennt, der hat auch mit einem tiefen Eindruck die Ruinen des<lb/> gewaltigen Schlosses betrachtet, welches mitten in der Stadt in cyklopischen<lb/> Quadern aus seinen Fundamenten herausragt, und vom steilen Ufer der Fulda<lb/> ein weites Thal beherrscht. Dieser Bau war von Kurfürst Wilhelm dein Er¬<lb/> sten nach seiner Rückkehr aus der Verbannung errichtet, genau auf der Stelle<lb/> des bei einem Mummenschanz des „lustiken Jerome" durch Feuer zerstörten<lb/> Stammschlosses der Landgrafen von Hessen. Der alte Herr, dessen engherzige<lb/> Knauserei berüchtigt genug ist, hatte die großartige Anlage des neuen Schlosses<lb/> für sein künftiges Geschlecht mit einem gewaltigen Aufwand begonnen und<lb/> eifrig betrieben. Als er starb, kaum ein Jahr vor der äußeren Vollendung, wa¬<lb/> ren bereits Millionen verwendet. Aber die „Kattenburg" sollte unvollendet<lb/> bleiben; die späteren Nachkommen des Geschlechts der Landgrafen von Hessen,<lb/> aus dem Schooße der heiligen Elisabeth entsprossen, sollten — ominös ge¬<lb/> nug — in dem Landschaftshause der alten hessischen Stände wohnen, jetzt<lb/> Palais genannt. An dem Tage nach dem Ableben Kurfürst Wilhelms des Ersten<lb/> hielt die Gräfin Reichenbach, die Maitresse des neuen Kurfürsten, vor den<lb/> Augen der zur Ableistung des Huldigungseides auf dem Friedrichsplatz ver¬<lb/> sammelten Armee ihren Einzug in das kurfürstliche Palais. An demselben<lb/> Tag wurden die Arbeiten an der Kattenburg eingestellt. Die Gräfin Reichen¬<lb/> bach hatte ja ganz andere Interessen, als die Schätze des Kurfürsten für einen<lb/> ^an verwenden zu lassen, in welchem ihre Kinder niemals wohnen durften.<lb/> Von jenem Tage datirt die neuere Geschichte des hessischen Fürstenhauses. Sie</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0199]
Knrhessische Briefe.
6.
Zuweilen kommt es vor, daß außergewöhnliche Ereignisse, welche noch in
der Zukunft verborgen liegen, auf eine unerklärliche Weise Visivnenartig sich
ankündigen. So ging hier, kurz vor dem Zusammentritt der Stände, das Gerücht:
der Abgeordnete Henkel beabsichtige einen Antrag auf Errichtung einer Regentschaft
zu stellen. Auch nicht die leiseste Spur einer Thatsache läßt sich ausfindig machen,
welche zu jenem Gerücht hätte Anlaß geben können. Nichts desto weniger fand
dasselbe seinen Weg in das Palais und veranlaßte dort eine gewaltige Auf¬
regung. Erst geraume Zeit später, durch die preußische Feldjägerdepesche, ge¬
wann jener Gedanke greifbare Gestalt, und jetzt scheint derselbe in allen Vor¬
kommnissen zu culminiren.
Die Geschicke müssen sich erfüllen. Wer die Stadt Kassel und ihre herr¬
liche Umgebung kennt, der hat auch mit einem tiefen Eindruck die Ruinen des
gewaltigen Schlosses betrachtet, welches mitten in der Stadt in cyklopischen
Quadern aus seinen Fundamenten herausragt, und vom steilen Ufer der Fulda
ein weites Thal beherrscht. Dieser Bau war von Kurfürst Wilhelm dein Er¬
sten nach seiner Rückkehr aus der Verbannung errichtet, genau auf der Stelle
des bei einem Mummenschanz des „lustiken Jerome" durch Feuer zerstörten
Stammschlosses der Landgrafen von Hessen. Der alte Herr, dessen engherzige
Knauserei berüchtigt genug ist, hatte die großartige Anlage des neuen Schlosses
für sein künftiges Geschlecht mit einem gewaltigen Aufwand begonnen und
eifrig betrieben. Als er starb, kaum ein Jahr vor der äußeren Vollendung, wa¬
ren bereits Millionen verwendet. Aber die „Kattenburg" sollte unvollendet
bleiben; die späteren Nachkommen des Geschlechts der Landgrafen von Hessen,
aus dem Schooße der heiligen Elisabeth entsprossen, sollten — ominös ge¬
nug — in dem Landschaftshause der alten hessischen Stände wohnen, jetzt
Palais genannt. An dem Tage nach dem Ableben Kurfürst Wilhelms des Ersten
hielt die Gräfin Reichenbach, die Maitresse des neuen Kurfürsten, vor den
Augen der zur Ableistung des Huldigungseides auf dem Friedrichsplatz ver¬
sammelten Armee ihren Einzug in das kurfürstliche Palais. An demselben
Tag wurden die Arbeiten an der Kattenburg eingestellt. Die Gräfin Reichen¬
bach hatte ja ganz andere Interessen, als die Schätze des Kurfürsten für einen
^an verwenden zu lassen, in welchem ihre Kinder niemals wohnen durften.
Von jenem Tage datirt die neuere Geschichte des hessischen Fürstenhauses. Sie
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