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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Zwist unter den bisher verbündeten Mächten, von ihm geschickt benutzt, auch
werthvolle materielle Ergebnisse verschaffen.

England begann den Kampf gegen die Ansprüche Rußlands mit einer an
den Kaiser Alexander gerichteten, vom 12. October datirten Denkschrift, in
welcher Castlereagh mit großer Herbheit in Abrede stellte, daß Rußland das
Recht habe, Polen wiederherzustellen.

Allerdings hatte die russische Regierung schon 1797 Oestreich und Preußen
gegenüber Verpflichtungen übernommen, mit denen ihr jetziges Begehren im
Widerspruch stand. Ferner hatte sie im kalischer Vertrag Preußen einen Strei¬
fen polnischen Landes zugesagt, und schließlich zu Reichenbach und Teplitz Oest¬
reich versprochen, das Herzogthum Warschau mit seinen Verbündeten zu theilen.
Was aber auch der Inhalt dieser Verträge sein mochte, England war ihnen
fremd geblieben, der britischen Regierung gegenüber war Rußland durch sie zu
nichts verpflichtet, und überdies mußte Castlereagh einräumen, daß England in
dieser Angelegenheit kein unmittelbares Interesse zu wahren habe. Dennoch
berief er sich auf jene Verträge, um die Forderung Alexanders, daß ihm das
Herzogthum Warschau ganz zufallen solle, geradezu als Treubruch zu bezeichnen.
Um jeder Widerlegung vorzubeugen, läugnete er daneben, daß eine entgegen¬
gesetzte sittliche Verpflichtung des Kaisers, die nämlich, ein polnisches Reich
wiederherzustellen, bestehe. Mit Nachdruck verweilte er dann bei den Gefahren,
die aus einer solchen Vergrößerung Rußlands, aus der an die Polen gerich¬
teten Aufforderung, sich um den Kaiser zu schaaren und an der Wiedergeburt
ihres Vaterlandes zu arbeiten, aus den Ermutigungen, die den Intriguen
"dieses leichtsinnigen und unruhigen Volkes" geboten würden, für die Ruhe
Europas und namentlich für Oestreich und Preußen hervorgehen müßten. Nicht
ohne Gewandtheit endlich stellte er dem Kaiser ein unlösbares Dilemma,
indem er sagte: solle die Wiederherstellung eines polnischen Reiches dennoch
für eine sittliche Pflicht erachtet werden, so könne diese nicht dadurch erfüllt
werden, daß man zwei Drittel des alten Gebiets der Republik zu einem Kriegs¬
werkzeug in der Hand einer einzelnen Macht gestalte, sondern nur dadurch, daß
die Polen wirklich wieder "in liberaler Weise" zu einem politisch unabhängigen
Volke erhoben würden. Einer solchen "wahrhaft liberalen-' Maßregel werde
ganz Europa seinen Beifall schenken. Sei der Kaiser aber nicht bereit, seiner¬
seits die hierzu nöthigen Opfer zu bringen, so habe er auch kein sittliches Recht,
Wiederherstellungsversuche auf Kosten seiner Nachbarn und Verbündeten zu
machen. Die Note schloß mit der Erklärung, wenn der Kaiser darauf bestände,
das Herzogthum Warschau militärisch besetzt zu halten, so würden alle zu Wien
versammelten Gesandten erklären müssen, daß man der Hoffnung auf Herstellung
eines geordneten Zustandes, wie man ihn zu Paris der Welt verheißen, be¬
raubt sei.


Zwist unter den bisher verbündeten Mächten, von ihm geschickt benutzt, auch
werthvolle materielle Ergebnisse verschaffen.

England begann den Kampf gegen die Ansprüche Rußlands mit einer an
den Kaiser Alexander gerichteten, vom 12. October datirten Denkschrift, in
welcher Castlereagh mit großer Herbheit in Abrede stellte, daß Rußland das
Recht habe, Polen wiederherzustellen.

Allerdings hatte die russische Regierung schon 1797 Oestreich und Preußen
gegenüber Verpflichtungen übernommen, mit denen ihr jetziges Begehren im
Widerspruch stand. Ferner hatte sie im kalischer Vertrag Preußen einen Strei¬
fen polnischen Landes zugesagt, und schließlich zu Reichenbach und Teplitz Oest¬
reich versprochen, das Herzogthum Warschau mit seinen Verbündeten zu theilen.
Was aber auch der Inhalt dieser Verträge sein mochte, England war ihnen
fremd geblieben, der britischen Regierung gegenüber war Rußland durch sie zu
nichts verpflichtet, und überdies mußte Castlereagh einräumen, daß England in
dieser Angelegenheit kein unmittelbares Interesse zu wahren habe. Dennoch
berief er sich auf jene Verträge, um die Forderung Alexanders, daß ihm das
Herzogthum Warschau ganz zufallen solle, geradezu als Treubruch zu bezeichnen.
Um jeder Widerlegung vorzubeugen, läugnete er daneben, daß eine entgegen¬
gesetzte sittliche Verpflichtung des Kaisers, die nämlich, ein polnisches Reich
wiederherzustellen, bestehe. Mit Nachdruck verweilte er dann bei den Gefahren,
die aus einer solchen Vergrößerung Rußlands, aus der an die Polen gerich¬
teten Aufforderung, sich um den Kaiser zu schaaren und an der Wiedergeburt
ihres Vaterlandes zu arbeiten, aus den Ermutigungen, die den Intriguen
„dieses leichtsinnigen und unruhigen Volkes" geboten würden, für die Ruhe
Europas und namentlich für Oestreich und Preußen hervorgehen müßten. Nicht
ohne Gewandtheit endlich stellte er dem Kaiser ein unlösbares Dilemma,
indem er sagte: solle die Wiederherstellung eines polnischen Reiches dennoch
für eine sittliche Pflicht erachtet werden, so könne diese nicht dadurch erfüllt
werden, daß man zwei Drittel des alten Gebiets der Republik zu einem Kriegs¬
werkzeug in der Hand einer einzelnen Macht gestalte, sondern nur dadurch, daß
die Polen wirklich wieder „in liberaler Weise" zu einem politisch unabhängigen
Volke erhoben würden. Einer solchen „wahrhaft liberalen-' Maßregel werde
ganz Europa seinen Beifall schenken. Sei der Kaiser aber nicht bereit, seiner¬
seits die hierzu nöthigen Opfer zu bringen, so habe er auch kein sittliches Recht,
Wiederherstellungsversuche auf Kosten seiner Nachbarn und Verbündeten zu
machen. Die Note schloß mit der Erklärung, wenn der Kaiser darauf bestände,
das Herzogthum Warschau militärisch besetzt zu halten, so würden alle zu Wien
versammelten Gesandten erklären müssen, daß man der Hoffnung auf Herstellung
eines geordneten Zustandes, wie man ihn zu Paris der Welt verheißen, be¬
raubt sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/98>, abgerufen am 15.01.2025.