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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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eines mitteleuropäischen Bündnisses, das außer England auch Oestreich, Preu¬
ßen, das ganze übrige Deutschland und die Niederlande umfassen sollte und
sich in gleicher Weise gegen Frankreich wie gegen Rußland wenden konnte.
Im Zusammenhang hiermit mußte England natürlich die Vereinigung Sachsens
mit Preußen, die Organisation Deutschlands zu einem Bundesstaat und die
Bertheilung des Restes von Polen unter seine Nachbarn entschieden gutheißen,
was Alles dem Cabinet der Tuilerien unerwünscht war.

Frankreich mußte also zunächst vereinzelt auf dem Congreß erscheinen und
blieb auf sich selbst angewiesen, wenn es sich dort Sitz und Stimme verschaffen
wollte. Nur ein ernster Zwist unter den Verbündeten konnte dazu die Mög¬
lichkeit gewähren. Keime zu einen solchem zeigten sich aber an mehr als einer
Stelle. Sie zu entwickeln und dann die Gelegenheit zu benutzen, ward von
jetzt an die Aufgabe der französischen Diplomatie. Zu der polnischen Frage
war deren Stellung durch dieses System ebenfalls gegeben. Frankreich mußte,
sobald es eine Stimme gewonnen, dieselbe für Vernichtung des Herzogtums
Warschau und seiner selbständigen nationalen Verwaltung, für Vertheilung sei¬
nes Gebiets unter Rußland, Preußen und Oestreich erheben. Mit andern Wor¬
ten: Frankreich mußte ebenso wie England die nochmalige und
letzte Theilung Polens ausdrücklich verlangen. Nur so konnte der
Vergrößerung der russischen Macht gewehrt, besonders aber Preußen, wenn ihm
Sachsen versagt blieb, der Form nach befriedigt werden. Jene Forderung
nahm sich, von Seiten Frankreichs erhoben, für welches die Polen wiederholt
geblutet, nicht gut aus. Sie nahm sich um so weniger gut aus, als Talley-
rand kurz zuvor die Pläne Alexanders mit Polen als hochherzig gepriesen hatte.
Indeß in Frankreich, wo Rhetorik die allgemeine Grundlage der Bildung ist,
konnte man nicht darum verlegen sein, wie dergleichen Dinge in wohltönende
Phrasen zu kleiden seien.

So gingen denn die Ansichten und Pläne der verschiedenen Cabinete nach
allen Richtungen auseinander. Für keine der schwebenden Fragen war eine
befriedigende Lösung vorbereitet, als sich die Vertreter Europas zu Wien ver¬
sammelten. Wohl aber war hier und dort mancher drohende Anspruch erhoben,
dem der Widerspruch nicht fehlte, und vielfach regten sich Zweifel und Mißtrauen.

Wir enthalten uns, auch nur die mit Recht kurz gefaßten Notizen des Ver¬
fassers über die Notabilitäten des Congresses mitzutheilen und beschränken uns
daraus, zunächst den ins Auge zu fassen, welcher sehr bald die wichtigste Rolle
in Bezug auf unsern Gegenstand so wie auf die damit in engem Zusammen-
hang stehende sächsische Frage spielen sollte.

Als Talleyrand in Begleitung des schofeln Dalberg") und andrer frau-



-) Das Epitheton für diesen erbärmlichen Handlanger französischer Politik ist nicht zu
stark. Bekanntlich sagte Stein auf dem Congreß: bisher habe der deutsche Kaiser, wenn er

eines mitteleuropäischen Bündnisses, das außer England auch Oestreich, Preu¬
ßen, das ganze übrige Deutschland und die Niederlande umfassen sollte und
sich in gleicher Weise gegen Frankreich wie gegen Rußland wenden konnte.
Im Zusammenhang hiermit mußte England natürlich die Vereinigung Sachsens
mit Preußen, die Organisation Deutschlands zu einem Bundesstaat und die
Bertheilung des Restes von Polen unter seine Nachbarn entschieden gutheißen,
was Alles dem Cabinet der Tuilerien unerwünscht war.

Frankreich mußte also zunächst vereinzelt auf dem Congreß erscheinen und
blieb auf sich selbst angewiesen, wenn es sich dort Sitz und Stimme verschaffen
wollte. Nur ein ernster Zwist unter den Verbündeten konnte dazu die Mög¬
lichkeit gewähren. Keime zu einen solchem zeigten sich aber an mehr als einer
Stelle. Sie zu entwickeln und dann die Gelegenheit zu benutzen, ward von
jetzt an die Aufgabe der französischen Diplomatie. Zu der polnischen Frage
war deren Stellung durch dieses System ebenfalls gegeben. Frankreich mußte,
sobald es eine Stimme gewonnen, dieselbe für Vernichtung des Herzogtums
Warschau und seiner selbständigen nationalen Verwaltung, für Vertheilung sei¬
nes Gebiets unter Rußland, Preußen und Oestreich erheben. Mit andern Wor¬
ten: Frankreich mußte ebenso wie England die nochmalige und
letzte Theilung Polens ausdrücklich verlangen. Nur so konnte der
Vergrößerung der russischen Macht gewehrt, besonders aber Preußen, wenn ihm
Sachsen versagt blieb, der Form nach befriedigt werden. Jene Forderung
nahm sich, von Seiten Frankreichs erhoben, für welches die Polen wiederholt
geblutet, nicht gut aus. Sie nahm sich um so weniger gut aus, als Talley-
rand kurz zuvor die Pläne Alexanders mit Polen als hochherzig gepriesen hatte.
Indeß in Frankreich, wo Rhetorik die allgemeine Grundlage der Bildung ist,
konnte man nicht darum verlegen sein, wie dergleichen Dinge in wohltönende
Phrasen zu kleiden seien.

So gingen denn die Ansichten und Pläne der verschiedenen Cabinete nach
allen Richtungen auseinander. Für keine der schwebenden Fragen war eine
befriedigende Lösung vorbereitet, als sich die Vertreter Europas zu Wien ver¬
sammelten. Wohl aber war hier und dort mancher drohende Anspruch erhoben,
dem der Widerspruch nicht fehlte, und vielfach regten sich Zweifel und Mißtrauen.

Wir enthalten uns, auch nur die mit Recht kurz gefaßten Notizen des Ver¬
fassers über die Notabilitäten des Congresses mitzutheilen und beschränken uns
daraus, zunächst den ins Auge zu fassen, welcher sehr bald die wichtigste Rolle
in Bezug auf unsern Gegenstand so wie auf die damit in engem Zusammen-
hang stehende sächsische Frage spielen sollte.

Als Talleyrand in Begleitung des schofeln Dalberg") und andrer frau-



-) Das Epitheton für diesen erbärmlichen Handlanger französischer Politik ist nicht zu
stark. Bekanntlich sagte Stein auf dem Congreß: bisher habe der deutsche Kaiser, wenn er
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/96>, abgerufen am 15.01.2025.