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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Behagen von der Erde Besitz ergriffen, auf ihr uns ausbreiten und daher un¬
sere Bauten wagrecht zu strecken und zu erheben haben? Die große Wirkung
jener gothischen Dome, welche der eigenthümliche Ausdruck einer Welt¬
anschauung sind, die ihren Gott über den Wolken suchte und in der Materie
befangen sie überwinden mußte, wird auch noch heutzutage jeder empfinden.
Aber unser Geist ist ein anderer und möchte selbst seine Kirchen nicht mehr so
luftig, verflüchtigt, durchbrochen und doch wieder materiell gerippartig aufwärts
streben sehen; denn unser Gott ist mehr von dieser Welt als von jener. ,

Aus diesem Verhältniß der Gegenwart zur Gothik ergibt sich wohl, was
in künstlerischer Beziehung von den ausgestellten gothischen Bauplänen zu hal¬
ten ist, Kenntniß des Stils und ein gewisses Geschick wird ihnen Niemand
absprechen: aber ob sie nun zopfig überladen und unklar sind, wie der Ent¬
wurf zu einer Akademie der Wissenschaften in Pesth von H. Ferstel, oder mit
einem etwas groben Naturalismus versetzt, wie die Pläne von Fr. Schmidt
(beide in Wien), oder endlich nüchtern und ziemlich handwerksmäßig durch¬
geführt, wie diejenigen von L. Foltz (München): bauende Phantasie und Sinn
für das organische Leben der Architektur wird man in diesen Erneuerungen
eines Stils, der sich ausgelebt hat, nicht suchen wollen.

Ringe sich die Gothik von der Erde los, so hat dagegen die Renaissance
die Baukunst der neuen Zeit erzeugt, die auf der Erde heimisch geworden ist.
Hier ist Wiedergeburt im doppelten Sinne: die Renaissance hat nicht nur die
Schönheit der antiken Welt wieder ins Leben gerufen, sie hat auch der christ¬
lichen Kunst das verzehrende Gewand himmlischer Sehnsucht wieder abgestreift
und sie als die in sich befriedigte Erscheinung der vom Geiste nicht mehr ver-
lassenen, sondern wieder bezogenen Welt aufs Neue geboren. Sie hat es
übernommen, mit lebendigem Sinn die auf harmonische Entwicklung des mensch¬
lichen Lebens angelegten und daher unvergänglichen Formen der Antike für die
Bedürfnisse der Neuzeit auszubilden; sie hat den Grundgesetzen der griechischen
Bauweise, wie sie sich vorab in deren Gliederungen als der ewig giltige Aus¬
druck des Aufbaues kundgeben, einen weiteren Spielraum zu verleihen gewußt ohne
sie über den Haufen zu werfen; sie hat ferner damit nach römischem Vorgange
den Rundbogen als weitere höchst fruchtbare structive Form zu neuen und or¬
ganischen Combinationen verbunden. So nimmt sie alle Elemente der noch
lebensfähigen Stile in sich auf, nicht zu nüchterner Nachahmung oder Mischung,
sondern zu lebendiger Weiterbildung, und schafft so als die zuletzt entwickelte
Bauart den passenden Raum für das sich ausbreitende weltliche Leben, die all¬
seitig fortschreitende, die Gegensätze versöhnende Bildung der neuen Zeitalter.
Zugleich drückt sie mit phantasievollem Formensinn in einem Ornamentenspiel,
das die mannigfaltige Schönheit des organischen Lebens und des menschlichen
Daseins in sich hereinnimmt, sowohl die gleichsam aus innerem Trieb wachsende


Behagen von der Erde Besitz ergriffen, auf ihr uns ausbreiten und daher un¬
sere Bauten wagrecht zu strecken und zu erheben haben? Die große Wirkung
jener gothischen Dome, welche der eigenthümliche Ausdruck einer Welt¬
anschauung sind, die ihren Gott über den Wolken suchte und in der Materie
befangen sie überwinden mußte, wird auch noch heutzutage jeder empfinden.
Aber unser Geist ist ein anderer und möchte selbst seine Kirchen nicht mehr so
luftig, verflüchtigt, durchbrochen und doch wieder materiell gerippartig aufwärts
streben sehen; denn unser Gott ist mehr von dieser Welt als von jener. ,

Aus diesem Verhältniß der Gegenwart zur Gothik ergibt sich wohl, was
in künstlerischer Beziehung von den ausgestellten gothischen Bauplänen zu hal¬
ten ist, Kenntniß des Stils und ein gewisses Geschick wird ihnen Niemand
absprechen: aber ob sie nun zopfig überladen und unklar sind, wie der Ent¬
wurf zu einer Akademie der Wissenschaften in Pesth von H. Ferstel, oder mit
einem etwas groben Naturalismus versetzt, wie die Pläne von Fr. Schmidt
(beide in Wien), oder endlich nüchtern und ziemlich handwerksmäßig durch¬
geführt, wie diejenigen von L. Foltz (München): bauende Phantasie und Sinn
für das organische Leben der Architektur wird man in diesen Erneuerungen
eines Stils, der sich ausgelebt hat, nicht suchen wollen.

Ringe sich die Gothik von der Erde los, so hat dagegen die Renaissance
die Baukunst der neuen Zeit erzeugt, die auf der Erde heimisch geworden ist.
Hier ist Wiedergeburt im doppelten Sinne: die Renaissance hat nicht nur die
Schönheit der antiken Welt wieder ins Leben gerufen, sie hat auch der christ¬
lichen Kunst das verzehrende Gewand himmlischer Sehnsucht wieder abgestreift
und sie als die in sich befriedigte Erscheinung der vom Geiste nicht mehr ver-
lassenen, sondern wieder bezogenen Welt aufs Neue geboren. Sie hat es
übernommen, mit lebendigem Sinn die auf harmonische Entwicklung des mensch¬
lichen Lebens angelegten und daher unvergänglichen Formen der Antike für die
Bedürfnisse der Neuzeit auszubilden; sie hat den Grundgesetzen der griechischen
Bauweise, wie sie sich vorab in deren Gliederungen als der ewig giltige Aus¬
druck des Aufbaues kundgeben, einen weiteren Spielraum zu verleihen gewußt ohne
sie über den Haufen zu werfen; sie hat ferner damit nach römischem Vorgange
den Rundbogen als weitere höchst fruchtbare structive Form zu neuen und or¬
ganischen Combinationen verbunden. So nimmt sie alle Elemente der noch
lebensfähigen Stile in sich auf, nicht zu nüchterner Nachahmung oder Mischung,
sondern zu lebendiger Weiterbildung, und schafft so als die zuletzt entwickelte
Bauart den passenden Raum für das sich ausbreitende weltliche Leben, die all¬
seitig fortschreitende, die Gegensätze versöhnende Bildung der neuen Zeitalter.
Zugleich drückt sie mit phantasievollem Formensinn in einem Ornamentenspiel,
das die mannigfaltige Schönheit des organischen Lebens und des menschlichen
Daseins in sich hereinnimmt, sowohl die gleichsam aus innerem Trieb wachsende


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[0354] Behagen von der Erde Besitz ergriffen, auf ihr uns ausbreiten und daher un¬ sere Bauten wagrecht zu strecken und zu erheben haben? Die große Wirkung jener gothischen Dome, welche der eigenthümliche Ausdruck einer Welt¬ anschauung sind, die ihren Gott über den Wolken suchte und in der Materie befangen sie überwinden mußte, wird auch noch heutzutage jeder empfinden. Aber unser Geist ist ein anderer und möchte selbst seine Kirchen nicht mehr so luftig, verflüchtigt, durchbrochen und doch wieder materiell gerippartig aufwärts streben sehen; denn unser Gott ist mehr von dieser Welt als von jener. , Aus diesem Verhältniß der Gegenwart zur Gothik ergibt sich wohl, was in künstlerischer Beziehung von den ausgestellten gothischen Bauplänen zu hal¬ ten ist, Kenntniß des Stils und ein gewisses Geschick wird ihnen Niemand absprechen: aber ob sie nun zopfig überladen und unklar sind, wie der Ent¬ wurf zu einer Akademie der Wissenschaften in Pesth von H. Ferstel, oder mit einem etwas groben Naturalismus versetzt, wie die Pläne von Fr. Schmidt (beide in Wien), oder endlich nüchtern und ziemlich handwerksmäßig durch¬ geführt, wie diejenigen von L. Foltz (München): bauende Phantasie und Sinn für das organische Leben der Architektur wird man in diesen Erneuerungen eines Stils, der sich ausgelebt hat, nicht suchen wollen. Ringe sich die Gothik von der Erde los, so hat dagegen die Renaissance die Baukunst der neuen Zeit erzeugt, die auf der Erde heimisch geworden ist. Hier ist Wiedergeburt im doppelten Sinne: die Renaissance hat nicht nur die Schönheit der antiken Welt wieder ins Leben gerufen, sie hat auch der christ¬ lichen Kunst das verzehrende Gewand himmlischer Sehnsucht wieder abgestreift und sie als die in sich befriedigte Erscheinung der vom Geiste nicht mehr ver- lassenen, sondern wieder bezogenen Welt aufs Neue geboren. Sie hat es übernommen, mit lebendigem Sinn die auf harmonische Entwicklung des mensch¬ lichen Lebens angelegten und daher unvergänglichen Formen der Antike für die Bedürfnisse der Neuzeit auszubilden; sie hat den Grundgesetzen der griechischen Bauweise, wie sie sich vorab in deren Gliederungen als der ewig giltige Aus¬ druck des Aufbaues kundgeben, einen weiteren Spielraum zu verleihen gewußt ohne sie über den Haufen zu werfen; sie hat ferner damit nach römischem Vorgange den Rundbogen als weitere höchst fruchtbare structive Form zu neuen und or¬ ganischen Combinationen verbunden. So nimmt sie alle Elemente der noch lebensfähigen Stile in sich auf, nicht zu nüchterner Nachahmung oder Mischung, sondern zu lebendiger Weiterbildung, und schafft so als die zuletzt entwickelte Bauart den passenden Raum für das sich ausbreitende weltliche Leben, die all¬ seitig fortschreitende, die Gegensätze versöhnende Bildung der neuen Zeitalter. Zugleich drückt sie mit phantasievollem Formensinn in einem Ornamentenspiel, das die mannigfaltige Schönheit des organischen Lebens und des menschlichen Daseins in sich hereinnimmt, sowohl die gleichsam aus innerem Trieb wachsende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/354>, abgerufen am 15.01.2025.