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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Beschränkung den reinen Stil der besten griechischen Zeit zum Muster zu nehmen.
Ganz gut; aber es konnte nicht ausbleiben, daß das unerreichbare Vorbild, das
Zurückversetzen in die Anschauung einer ganz andern Zeit, ganz andern Welt
auf die Individualität des Künstlers drückte und die unmittelbare lebendige Auf¬
fassung, welche den Zug der Natur und der eigenen Phantasie in die Dar¬
stellung bringt, um so mehr lähmte, als ihn sckon der Stoff in gewissen Grenzen
festhielt. So entstehen seit einer Reihe von Jahren, sobald es sich um Dar¬
stellung idealer Motive handelt, selbst im günstigen Falle, wenn nämlich der
Künstler der Formen Herr ist und die großen Muster mit fühlendem Auge ge¬
sehen hat, nur glückliche Nachbildungen der Antike; Nachbildungen, die man
als tüchtige Leistungen anerkennen mag, die auch allenfalls durch ein lebendiges
Verständniß des Körpers und den Linienzug erfreuen können, aber kein eigen¬
thümlich empfundenes Leben mittheilen und daher die Phantasie des Beschauers
nicht anregen. In Verbindung mit der Architektur mögen diese gemessenen und
kühlen plastischen Gestalten noch eine gewisse Wirkung machen, aber für sich
gesehen, lassen sie aus dem Stein keine Seele blicken, so wenig es in diesem
der moderne Plastiker umgekehrt zum Gefühl des Fleisches zu bringen vermag.
Das Alles läßt sich an dem besten Werke dieser Richtung, das die Ausstellung
aufzuweisen hatte, an dem Dädalus und Ikarus von Fr. Brugger (der
übrigens in der Darstellung anmuthiger Motive in kleinerem Maßstabe mehr
zu Hause ist), im Guten wie im Schlimmen wahrnehmen. Es ist hier wohl
Verständniß der Antike, Idealität der Anschauung, ein gewisser Formen- und
Liniensinn, eine geübte Behandlung, aber der rechte Zug des Lebens ist aus¬
geblieben; zudem hat das Pathos, die gehobene Empfindung, die in Ikarus
zum Ausdruck kommen sollte, diese Gestalt ins Gespreizte getrieben. Was sonst
der Art ausgestellt war, war schon in der Formkenntniß zu mittelmäßig, in der
Anschauung zu flau oder zu plump, als daß man sich dabei aufzuhalten brauchte.

Die mehr realistische Ausbildung der modernen Plastik, welche den histo¬
rischen Menschen in seiner individuellen Bestimmtheit und mitgenommen vom
Kampf des Lebens faßt, aber zugleich in monumentalen Sinne den Hauch des
Geistes über die ganze straff in sich zusammengefaßte Gestalt zu gießen hat,
war gar nicht vertreten. Auch ist, was die neueste Zeit, gegen die vorange¬
gangene Epoche der Rauch und Ritschel weit zurückstehend, in dieser Art geleistet
hat -- die verschiedenen Schillerstatuen sind ein schlimmes Beispiel -- durch
eine maskenhafte Charakteristik bei flacher Jdealisirung gänzlich mißrathen. Die
Mischung halb antiker, halb realistischer Behandlung, welche beide unverarbeitet
durcheinanderbringt, wie in der schlafenden Frauensigur von Kiß in Berlin,
ist ein Zwitterding; hier ist weder das Leben einfach aufgefaßter Natur, noch
der edle Wurf der plastisch durchgebildeten Erscheinung.

Eine ganz neue Anschauung dagegen, die darauf ausgeht, die Plastik auch


Beschränkung den reinen Stil der besten griechischen Zeit zum Muster zu nehmen.
Ganz gut; aber es konnte nicht ausbleiben, daß das unerreichbare Vorbild, das
Zurückversetzen in die Anschauung einer ganz andern Zeit, ganz andern Welt
auf die Individualität des Künstlers drückte und die unmittelbare lebendige Auf¬
fassung, welche den Zug der Natur und der eigenen Phantasie in die Dar¬
stellung bringt, um so mehr lähmte, als ihn sckon der Stoff in gewissen Grenzen
festhielt. So entstehen seit einer Reihe von Jahren, sobald es sich um Dar¬
stellung idealer Motive handelt, selbst im günstigen Falle, wenn nämlich der
Künstler der Formen Herr ist und die großen Muster mit fühlendem Auge ge¬
sehen hat, nur glückliche Nachbildungen der Antike; Nachbildungen, die man
als tüchtige Leistungen anerkennen mag, die auch allenfalls durch ein lebendiges
Verständniß des Körpers und den Linienzug erfreuen können, aber kein eigen¬
thümlich empfundenes Leben mittheilen und daher die Phantasie des Beschauers
nicht anregen. In Verbindung mit der Architektur mögen diese gemessenen und
kühlen plastischen Gestalten noch eine gewisse Wirkung machen, aber für sich
gesehen, lassen sie aus dem Stein keine Seele blicken, so wenig es in diesem
der moderne Plastiker umgekehrt zum Gefühl des Fleisches zu bringen vermag.
Das Alles läßt sich an dem besten Werke dieser Richtung, das die Ausstellung
aufzuweisen hatte, an dem Dädalus und Ikarus von Fr. Brugger (der
übrigens in der Darstellung anmuthiger Motive in kleinerem Maßstabe mehr
zu Hause ist), im Guten wie im Schlimmen wahrnehmen. Es ist hier wohl
Verständniß der Antike, Idealität der Anschauung, ein gewisser Formen- und
Liniensinn, eine geübte Behandlung, aber der rechte Zug des Lebens ist aus¬
geblieben; zudem hat das Pathos, die gehobene Empfindung, die in Ikarus
zum Ausdruck kommen sollte, diese Gestalt ins Gespreizte getrieben. Was sonst
der Art ausgestellt war, war schon in der Formkenntniß zu mittelmäßig, in der
Anschauung zu flau oder zu plump, als daß man sich dabei aufzuhalten brauchte.

Die mehr realistische Ausbildung der modernen Plastik, welche den histo¬
rischen Menschen in seiner individuellen Bestimmtheit und mitgenommen vom
Kampf des Lebens faßt, aber zugleich in monumentalen Sinne den Hauch des
Geistes über die ganze straff in sich zusammengefaßte Gestalt zu gießen hat,
war gar nicht vertreten. Auch ist, was die neueste Zeit, gegen die vorange¬
gangene Epoche der Rauch und Ritschel weit zurückstehend, in dieser Art geleistet
hat — die verschiedenen Schillerstatuen sind ein schlimmes Beispiel — durch
eine maskenhafte Charakteristik bei flacher Jdealisirung gänzlich mißrathen. Die
Mischung halb antiker, halb realistischer Behandlung, welche beide unverarbeitet
durcheinanderbringt, wie in der schlafenden Frauensigur von Kiß in Berlin,
ist ein Zwitterding; hier ist weder das Leben einfach aufgefaßter Natur, noch
der edle Wurf der plastisch durchgebildeten Erscheinung.

Eine ganz neue Anschauung dagegen, die darauf ausgeht, die Plastik auch


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[0349] Beschränkung den reinen Stil der besten griechischen Zeit zum Muster zu nehmen. Ganz gut; aber es konnte nicht ausbleiben, daß das unerreichbare Vorbild, das Zurückversetzen in die Anschauung einer ganz andern Zeit, ganz andern Welt auf die Individualität des Künstlers drückte und die unmittelbare lebendige Auf¬ fassung, welche den Zug der Natur und der eigenen Phantasie in die Dar¬ stellung bringt, um so mehr lähmte, als ihn sckon der Stoff in gewissen Grenzen festhielt. So entstehen seit einer Reihe von Jahren, sobald es sich um Dar¬ stellung idealer Motive handelt, selbst im günstigen Falle, wenn nämlich der Künstler der Formen Herr ist und die großen Muster mit fühlendem Auge ge¬ sehen hat, nur glückliche Nachbildungen der Antike; Nachbildungen, die man als tüchtige Leistungen anerkennen mag, die auch allenfalls durch ein lebendiges Verständniß des Körpers und den Linienzug erfreuen können, aber kein eigen¬ thümlich empfundenes Leben mittheilen und daher die Phantasie des Beschauers nicht anregen. In Verbindung mit der Architektur mögen diese gemessenen und kühlen plastischen Gestalten noch eine gewisse Wirkung machen, aber für sich gesehen, lassen sie aus dem Stein keine Seele blicken, so wenig es in diesem der moderne Plastiker umgekehrt zum Gefühl des Fleisches zu bringen vermag. Das Alles läßt sich an dem besten Werke dieser Richtung, das die Ausstellung aufzuweisen hatte, an dem Dädalus und Ikarus von Fr. Brugger (der übrigens in der Darstellung anmuthiger Motive in kleinerem Maßstabe mehr zu Hause ist), im Guten wie im Schlimmen wahrnehmen. Es ist hier wohl Verständniß der Antike, Idealität der Anschauung, ein gewisser Formen- und Liniensinn, eine geübte Behandlung, aber der rechte Zug des Lebens ist aus¬ geblieben; zudem hat das Pathos, die gehobene Empfindung, die in Ikarus zum Ausdruck kommen sollte, diese Gestalt ins Gespreizte getrieben. Was sonst der Art ausgestellt war, war schon in der Formkenntniß zu mittelmäßig, in der Anschauung zu flau oder zu plump, als daß man sich dabei aufzuhalten brauchte. Die mehr realistische Ausbildung der modernen Plastik, welche den histo¬ rischen Menschen in seiner individuellen Bestimmtheit und mitgenommen vom Kampf des Lebens faßt, aber zugleich in monumentalen Sinne den Hauch des Geistes über die ganze straff in sich zusammengefaßte Gestalt zu gießen hat, war gar nicht vertreten. Auch ist, was die neueste Zeit, gegen die vorange¬ gangene Epoche der Rauch und Ritschel weit zurückstehend, in dieser Art geleistet hat — die verschiedenen Schillerstatuen sind ein schlimmes Beispiel — durch eine maskenhafte Charakteristik bei flacher Jdealisirung gänzlich mißrathen. Die Mischung halb antiker, halb realistischer Behandlung, welche beide unverarbeitet durcheinanderbringt, wie in der schlafenden Frauensigur von Kiß in Berlin, ist ein Zwitterding; hier ist weder das Leben einfach aufgefaßter Natur, noch der edle Wurf der plastisch durchgebildeten Erscheinung. Eine ganz neue Anschauung dagegen, die darauf ausgeht, die Plastik auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/349>, abgerufen am 15.01.2025.