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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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den Lauten ein seelisches Princip, bat Jacob Grimm mehrfach zu einer iso
lirenden Betrachtung der deutschen Sprachgeschichte und zu einer dynamischen
Erklärung mancher Laut- und Formveränderungen verleitet, die sich nicht auf¬
reckt erhalten läßt; so ist z. B. die Vorgeschichte des Ablautes und die Dar¬
stellung seiner Verzweigung und seines Einflusses allmälig eine andere ge¬
worden als wie Grimm sie darzustellen liebte. Aber wer wollte trotz alledem
behaupten, daß auch nur der erste Theil der Grammatik von 1822 heute
antiquirt sei? ja nicht einmal die Ausgabe von 1819 ist es; denn sie enthält
eine Einleitung, die noch nicht wieder ersetzt ist. Wenn aber auch einmal alle
Resultate revidirt und anders und schärfer gesaßt sein sollten, so wird der
weltgeschichtliche Charakter der Grammatik dadurch in nichts verkümmert werden,
denn durch sie ward, weit über das deutsche Gebiet hinausgreifend, der Grund
zu einer neuen Wissenschaft gelegt, zu der historischen Grammatik und zu der
Sprachwissenschaft als selbständiger Disciplin. Diese hat seitdem weitere
Dimensionen angenommen, W. von Humboldts und Bopp's Verdienste haben
sie reich ausgestattet, aber nicht' nur die historischen Grammatiker von Diez,
Miclosich und Zeuß für die Gebiete der romanischen, slavischen und celtischen
Sprackcn können und wollen sich dem Geständnis; nicht entziehen, in Grimms
Fußstapfen getreten zu sein, nein alle Jünger der neuern Sprachwissenschaft
überhaupt, selbst diejenigen, welche so weite Gebiete beherrschen, wie z. B.
gegenwärtig Schleicher, können nicht umhin und werden nie umhin können, Jacob
Grimm als einen der Hauptgründer und eine der Hauptsäulen ihrer Wissen¬
schaft zu bezeichnen.

Von nun an können uns die kleineren Arbeiten Jacob Grimms nicht mehr
beschäftigen. Wir bemerken daher nur im Allgemeinen, daß er seit 1819 eme
Reihe Recensionen in den Göttin ger Gelehrten Anzeigen (bis über die göttinger
Katastrophe hinaus) und in den Wiener Jahrbüchern (hervorzuheben sind die
über Graffs Präpositionen, Bertholds Predigten und Castigliones Ulfilas) hat
erscheinen lassen. Weniges von ihm steht in Haupt und Hoffmanns Altdeutschen
Blättern (1834--1840), dagegen lieferte er reiche Beisteuern zu der seit 1840
von Haupt herausgegebenen Zeitschrift für deutsches Alterthum und zu Franz
Pfeiffers Germania seit 1853. Die Abhandlungen und namentlich auch
die Berichte der berliner Akademie der Wissenschaften enthalten Viel und
Vorzügliches; Kleinigkeiten finden sich noch manche zerstreut und an Orten, wo
man sie nickt vermuthet, z. B. in Strubes und Hornthals Wünschelruthe (Göt¬
tingen 1818). Es wäre wünschenswerth, daß diese zerstreuten Aufsätze, von
denen keiner ganz ohne Interesse ist, einmal gesammelt oder doch wenigstens
bibliographisch zusammengestellt würden.

Wir schreiten vorwärts in der Besprechung der großen Fundamentalwerke
Jacob Grimms.


den Lauten ein seelisches Princip, bat Jacob Grimm mehrfach zu einer iso
lirenden Betrachtung der deutschen Sprachgeschichte und zu einer dynamischen
Erklärung mancher Laut- und Formveränderungen verleitet, die sich nicht auf¬
reckt erhalten läßt; so ist z. B. die Vorgeschichte des Ablautes und die Dar¬
stellung seiner Verzweigung und seines Einflusses allmälig eine andere ge¬
worden als wie Grimm sie darzustellen liebte. Aber wer wollte trotz alledem
behaupten, daß auch nur der erste Theil der Grammatik von 1822 heute
antiquirt sei? ja nicht einmal die Ausgabe von 1819 ist es; denn sie enthält
eine Einleitung, die noch nicht wieder ersetzt ist. Wenn aber auch einmal alle
Resultate revidirt und anders und schärfer gesaßt sein sollten, so wird der
weltgeschichtliche Charakter der Grammatik dadurch in nichts verkümmert werden,
denn durch sie ward, weit über das deutsche Gebiet hinausgreifend, der Grund
zu einer neuen Wissenschaft gelegt, zu der historischen Grammatik und zu der
Sprachwissenschaft als selbständiger Disciplin. Diese hat seitdem weitere
Dimensionen angenommen, W. von Humboldts und Bopp's Verdienste haben
sie reich ausgestattet, aber nicht' nur die historischen Grammatiker von Diez,
Miclosich und Zeuß für die Gebiete der romanischen, slavischen und celtischen
Sprackcn können und wollen sich dem Geständnis; nicht entziehen, in Grimms
Fußstapfen getreten zu sein, nein alle Jünger der neuern Sprachwissenschaft
überhaupt, selbst diejenigen, welche so weite Gebiete beherrschen, wie z. B.
gegenwärtig Schleicher, können nicht umhin und werden nie umhin können, Jacob
Grimm als einen der Hauptgründer und eine der Hauptsäulen ihrer Wissen¬
schaft zu bezeichnen.

Von nun an können uns die kleineren Arbeiten Jacob Grimms nicht mehr
beschäftigen. Wir bemerken daher nur im Allgemeinen, daß er seit 1819 eme
Reihe Recensionen in den Göttin ger Gelehrten Anzeigen (bis über die göttinger
Katastrophe hinaus) und in den Wiener Jahrbüchern (hervorzuheben sind die
über Graffs Präpositionen, Bertholds Predigten und Castigliones Ulfilas) hat
erscheinen lassen. Weniges von ihm steht in Haupt und Hoffmanns Altdeutschen
Blättern (1834—1840), dagegen lieferte er reiche Beisteuern zu der seit 1840
von Haupt herausgegebenen Zeitschrift für deutsches Alterthum und zu Franz
Pfeiffers Germania seit 1853. Die Abhandlungen und namentlich auch
die Berichte der berliner Akademie der Wissenschaften enthalten Viel und
Vorzügliches; Kleinigkeiten finden sich noch manche zerstreut und an Orten, wo
man sie nickt vermuthet, z. B. in Strubes und Hornthals Wünschelruthe (Göt¬
tingen 1818). Es wäre wünschenswerth, daß diese zerstreuten Aufsätze, von
denen keiner ganz ohne Interesse ist, einmal gesammelt oder doch wenigstens
bibliographisch zusammengestellt würden.

Wir schreiten vorwärts in der Besprechung der großen Fundamentalwerke
Jacob Grimms.


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[0300] den Lauten ein seelisches Princip, bat Jacob Grimm mehrfach zu einer iso lirenden Betrachtung der deutschen Sprachgeschichte und zu einer dynamischen Erklärung mancher Laut- und Formveränderungen verleitet, die sich nicht auf¬ reckt erhalten läßt; so ist z. B. die Vorgeschichte des Ablautes und die Dar¬ stellung seiner Verzweigung und seines Einflusses allmälig eine andere ge¬ worden als wie Grimm sie darzustellen liebte. Aber wer wollte trotz alledem behaupten, daß auch nur der erste Theil der Grammatik von 1822 heute antiquirt sei? ja nicht einmal die Ausgabe von 1819 ist es; denn sie enthält eine Einleitung, die noch nicht wieder ersetzt ist. Wenn aber auch einmal alle Resultate revidirt und anders und schärfer gesaßt sein sollten, so wird der weltgeschichtliche Charakter der Grammatik dadurch in nichts verkümmert werden, denn durch sie ward, weit über das deutsche Gebiet hinausgreifend, der Grund zu einer neuen Wissenschaft gelegt, zu der historischen Grammatik und zu der Sprachwissenschaft als selbständiger Disciplin. Diese hat seitdem weitere Dimensionen angenommen, W. von Humboldts und Bopp's Verdienste haben sie reich ausgestattet, aber nicht' nur die historischen Grammatiker von Diez, Miclosich und Zeuß für die Gebiete der romanischen, slavischen und celtischen Sprackcn können und wollen sich dem Geständnis; nicht entziehen, in Grimms Fußstapfen getreten zu sein, nein alle Jünger der neuern Sprachwissenschaft überhaupt, selbst diejenigen, welche so weite Gebiete beherrschen, wie z. B. gegenwärtig Schleicher, können nicht umhin und werden nie umhin können, Jacob Grimm als einen der Hauptgründer und eine der Hauptsäulen ihrer Wissen¬ schaft zu bezeichnen. Von nun an können uns die kleineren Arbeiten Jacob Grimms nicht mehr beschäftigen. Wir bemerken daher nur im Allgemeinen, daß er seit 1819 eme Reihe Recensionen in den Göttin ger Gelehrten Anzeigen (bis über die göttinger Katastrophe hinaus) und in den Wiener Jahrbüchern (hervorzuheben sind die über Graffs Präpositionen, Bertholds Predigten und Castigliones Ulfilas) hat erscheinen lassen. Weniges von ihm steht in Haupt und Hoffmanns Altdeutschen Blättern (1834—1840), dagegen lieferte er reiche Beisteuern zu der seit 1840 von Haupt herausgegebenen Zeitschrift für deutsches Alterthum und zu Franz Pfeiffers Germania seit 1853. Die Abhandlungen und namentlich auch die Berichte der berliner Akademie der Wissenschaften enthalten Viel und Vorzügliches; Kleinigkeiten finden sich noch manche zerstreut und an Orten, wo man sie nickt vermuthet, z. B. in Strubes und Hornthals Wünschelruthe (Göt¬ tingen 1818). Es wäre wünschenswerth, daß diese zerstreuten Aufsätze, von denen keiner ganz ohne Interesse ist, einmal gesammelt oder doch wenigstens bibliographisch zusammengestellt würden. Wir schreiten vorwärts in der Besprechung der großen Fundamentalwerke Jacob Grimms.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/300>, abgerufen am 15.01.2025.