Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.noch nicht ausgesprochen. Dies liegt vielmehr darin, daß die Sprache in ganz Natürlich steht die Wissenschaft schon jetzt nicht mehr überall in Ueber¬ 37 *
noch nicht ausgesprochen. Dies liegt vielmehr darin, daß die Sprache in ganz Natürlich steht die Wissenschaft schon jetzt nicht mehr überall in Ueber¬ 37 *
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0299" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116227"/> <p xml:id="ID_1018" prev="#ID_1017"> noch nicht ausgesprochen. Dies liegt vielmehr darin, daß die Sprache in ganz<lb/> anderer Weise als bisher aufgefaßt, daß die Stellung des gelehrten Forschers<lb/> zu ihr in ganz anderer Weise bemessen ward als bisher. Die Sprache erschien<lb/> nun als ein lebender, sich nach mehr oder weniger bestimmten Gesetzen fort-<lb/> entwickelnder Organismus, die lebende Sprache nicht mehr als ein den er¬<lb/> klärenden Schwerpunkt in sich selbst findendes Ganze, sondern als das zufällige,<lb/> augenblicklich letzte Ende der bisherigen Entwicklung; und der Gelehrte ward<lb/> dieser Sprachentwicklung gegenübergestellt wie der beobachtende Naturforscher,<lb/> der, recht eigentlich mit dem Blicke des Botanikers, die zahllosen Erscheinungen<lb/> auf dem Gebiete der Sprache zu sammeln, zu ordnen, zu erklären, in Zu¬<lb/> sammenhang zu bringen habe. So war die bis dahin blühende gelehrte Schul¬<lb/> meisteret mit einem Schlage abgethan, aber dafür auch die Grammatik aus<lb/> der Lage einer bloßen Hilfsdisciplin erhoben zu einer selbständigen Wissenschaft.<lb/> Zunächst siel natürlich der Hauptaccent aus die sinnlichste Seite der Sprache,<lb/> ihre äußere, ländliche, formelle Erscheinung, und hier erschloß sich nun ein<lb/> ganz neues Gebiet der Forschung, die Lautlehre. An 600 Seiten der zweiten<lb/> Auflage nahm diese bereits 1822 ein, und 1840 war aus den Vocalen allein<lb/> ein eigener Band von gleichem Umfange geworden. Dabei ruhte ein Zauber<lb/> poetischer, seelenvoller Auffassung über der ganzen, den kolossalen Stoff in<lb/> seltener Weise beherrschenden Darstellung. In Grimms Geiste gewannen die<lb/> Laute der Sprache, gewannen die einzelnen lautlicher Erscheinungen der<lb/> Sprachgeschichte ein eigenes Leben, eine scheinbar seelische Selbstbestimmungs¬<lb/> krast. Wo eine solche am lebendigsten hervorzutreten schien, da verweilte<lb/> Grimm am liebsten und mit dem ganzen Reichthum seiner Phantasie und seines<lb/> Scharfsinnes, so namentlich bei der Lehre vom Uhland. Ueberhaupt siel das<lb/> Hauptgewicht seines Interesses auf die Laut- und Formenlehre. Hier wird ihm<lb/> das für die gesammte Sprachforschung epochemachende Gesetz der sogenannten<lb/> Lautverschiebung verdankt, ein Verdienst, das ihm ungeschmälert bleiben muß,<lb/> wenn auch Rast einige Erscheinungen dieses Gesetzes bereits früher beachtet<lb/> hatte; serner die durchgreifenden und auf so einfache Gründe zurückgeführten<lb/> Gesetze des Umlautes und der Brechung. Die Syntax muthete Grimm weniger<lb/> an, und wenn der letzte Band derselben nicht erschienen ist, so hat dieser<lb/> innere Grund dabei gewiß den Ausschlag gegeben. Einzelne Partien hat er<lb/> in akademischen Abhandlungen bearbeitet, so namentlich einige Fälle der<lb/> Attraction. Auch die Lautlehre ist noch in einigen besonderen Abhandlungen<lb/> gefördert worden, so in der über die Entstehung der Diphthonge u. a.</p><lb/> <p xml:id="ID_1019" next="#ID_1020"> Natürlich steht die Wissenschaft schon jetzt nicht mehr überall in Ueber¬<lb/> einstimmung mit den einzelnen Resultaten Jacob Grimms. In der Lautlehre<lb/> wird jetzt Manches anders gefaßt, und das Gesetz der Lautverschiebung ist in ein¬<lb/> zelnen Erscheinungen schärfer erkannt; jene poetische Ausfassung, als lebe in</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 37 *</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0299]
noch nicht ausgesprochen. Dies liegt vielmehr darin, daß die Sprache in ganz
anderer Weise als bisher aufgefaßt, daß die Stellung des gelehrten Forschers
zu ihr in ganz anderer Weise bemessen ward als bisher. Die Sprache erschien
nun als ein lebender, sich nach mehr oder weniger bestimmten Gesetzen fort-
entwickelnder Organismus, die lebende Sprache nicht mehr als ein den er¬
klärenden Schwerpunkt in sich selbst findendes Ganze, sondern als das zufällige,
augenblicklich letzte Ende der bisherigen Entwicklung; und der Gelehrte ward
dieser Sprachentwicklung gegenübergestellt wie der beobachtende Naturforscher,
der, recht eigentlich mit dem Blicke des Botanikers, die zahllosen Erscheinungen
auf dem Gebiete der Sprache zu sammeln, zu ordnen, zu erklären, in Zu¬
sammenhang zu bringen habe. So war die bis dahin blühende gelehrte Schul¬
meisteret mit einem Schlage abgethan, aber dafür auch die Grammatik aus
der Lage einer bloßen Hilfsdisciplin erhoben zu einer selbständigen Wissenschaft.
Zunächst siel natürlich der Hauptaccent aus die sinnlichste Seite der Sprache,
ihre äußere, ländliche, formelle Erscheinung, und hier erschloß sich nun ein
ganz neues Gebiet der Forschung, die Lautlehre. An 600 Seiten der zweiten
Auflage nahm diese bereits 1822 ein, und 1840 war aus den Vocalen allein
ein eigener Band von gleichem Umfange geworden. Dabei ruhte ein Zauber
poetischer, seelenvoller Auffassung über der ganzen, den kolossalen Stoff in
seltener Weise beherrschenden Darstellung. In Grimms Geiste gewannen die
Laute der Sprache, gewannen die einzelnen lautlicher Erscheinungen der
Sprachgeschichte ein eigenes Leben, eine scheinbar seelische Selbstbestimmungs¬
krast. Wo eine solche am lebendigsten hervorzutreten schien, da verweilte
Grimm am liebsten und mit dem ganzen Reichthum seiner Phantasie und seines
Scharfsinnes, so namentlich bei der Lehre vom Uhland. Ueberhaupt siel das
Hauptgewicht seines Interesses auf die Laut- und Formenlehre. Hier wird ihm
das für die gesammte Sprachforschung epochemachende Gesetz der sogenannten
Lautverschiebung verdankt, ein Verdienst, das ihm ungeschmälert bleiben muß,
wenn auch Rast einige Erscheinungen dieses Gesetzes bereits früher beachtet
hatte; serner die durchgreifenden und auf so einfache Gründe zurückgeführten
Gesetze des Umlautes und der Brechung. Die Syntax muthete Grimm weniger
an, und wenn der letzte Band derselben nicht erschienen ist, so hat dieser
innere Grund dabei gewiß den Ausschlag gegeben. Einzelne Partien hat er
in akademischen Abhandlungen bearbeitet, so namentlich einige Fälle der
Attraction. Auch die Lautlehre ist noch in einigen besonderen Abhandlungen
gefördert worden, so in der über die Entstehung der Diphthonge u. a.
Natürlich steht die Wissenschaft schon jetzt nicht mehr überall in Ueber¬
einstimmung mit den einzelnen Resultaten Jacob Grimms. In der Lautlehre
wird jetzt Manches anders gefaßt, und das Gesetz der Lautverschiebung ist in ein¬
zelnen Erscheinungen schärfer erkannt; jene poetische Ausfassung, als lebe in
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