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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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wirrung und Unzusammenhang da, wo gerade, wenn man sich gewöhnt hat,
das nie still Gestandene und nie still Stehende ins Auge zu fassen, eine un¬
endlich einfache, weise und tiefsinnige Austheilung der Lichter und Farben
mehr und mehr erkannt werden wird." Noch in demselben Jahre erschien der
erste Theil der "deutschen Grammatik", die Flexionslehre umfassend, der drei
Jahre darauf in zweiter Auflage herauskam, vermehrt um ein ganz neues
Capitel, die Lautlehre; 1826 folgte der zweite Band, der die Lehre von der
Wortbildung enthielt, 1831 der dritte, von der Fortsetzung der Wortbildungs¬
lehre und dem Genus handelnd, 1837 der vierte, die Syntax des einfachen
Satzes. Auch damit war das Werk noch nicht vollendet und die Syntax des
zusammengesetzten Satzes ist unbearbeitet geblieben. 1840 kam ein Abschnitt
des ersten Bandes, die Vocale enthaltend, in dritter Auflage heraus.

Das Staunen, mit welchem das Werk bei seinem Erscheinen die Zeit¬
genossen erfüllte, vermag uns wohl nichts lebendiger vor die Augen zu führen
als die Art und Weise, mit der sich Jean Paul in dem erwähnten Streite
scherzend ausspricht (Ueber die deutschen Doppelwörter, Stuttgart 1820, fünftes
Postscript): "Mit Herrn Bibliothekar Grimm sollte mir ein seltenes Glück be¬
gegnen. Ich war nämlich so glücklich, daß ich seine deutsche Grammatik erst
in diesem Monate kennen lernte, also viel später als seinen Angriff meiner
12 kanonischen Apostelbriefe, der schon im zweiten Bande des Hermes auf
1819 steht. Himmel! wäre aber die Sache umgewandt gewesen, und ich hätte
den Verfasser der Grammatik nur Eine Woche früher gelesen als den Verfasser
des Angriffs: eine Leidenswoehe hätte ich ausgestanden und es wäre zu viel
gewesen!"

Und die Grammatik war auch wohl darnach angethan, ein solches Stau¬
nen zu rechtfertigen. Zuerst welche Bewältigung eines massenhaften Stoffes!
Alle deutschen Sprachzweige, Gothisch, Hochdeutsch, niederdeutsch, nieder¬
ländisch, Angelsächsisch, nordisch, schwedisch und Dänisch waren umfaßt und
fast alle von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, und mit einer fast er¬
schöpfenden Erörterung aller zugänglichen Quellen, deren viele Mancher, der
sich nicht ungelehrt däuchte, vielleicht noch nicht einmal dem Namen nach
kennen gelernt hatte. Wo hatte man so viel Gelehrsamkeit und so viel Stu¬
dium auf dem Gebiete des Deutschen schon nebeneinander gefunden? Sodann
die wunderbare Durchsichtigkeit der Anordnung und die hinreißende Behandlung
des völlig beherrschten Stoffes. Es halte Grimm mit genialen Blicke die
Form gefunden, zu gleicher Zeit eine darstellende, paradigmatisch belehrende,
eine historische und eine vergleichende Grammatik zu schreiben, ja über das
Gebiet der behandelten Sprache wiesen seine Fingerzeige auf die urverwandten
hin. Eine großartige, ergreifende Perspective eröffnete sich. Aber in diesen
Eigenschaften ist das eigentlich Epochemachende der grimmschen Grammatik


wirrung und Unzusammenhang da, wo gerade, wenn man sich gewöhnt hat,
das nie still Gestandene und nie still Stehende ins Auge zu fassen, eine un¬
endlich einfache, weise und tiefsinnige Austheilung der Lichter und Farben
mehr und mehr erkannt werden wird." Noch in demselben Jahre erschien der
erste Theil der „deutschen Grammatik", die Flexionslehre umfassend, der drei
Jahre darauf in zweiter Auflage herauskam, vermehrt um ein ganz neues
Capitel, die Lautlehre; 1826 folgte der zweite Band, der die Lehre von der
Wortbildung enthielt, 1831 der dritte, von der Fortsetzung der Wortbildungs¬
lehre und dem Genus handelnd, 1837 der vierte, die Syntax des einfachen
Satzes. Auch damit war das Werk noch nicht vollendet und die Syntax des
zusammengesetzten Satzes ist unbearbeitet geblieben. 1840 kam ein Abschnitt
des ersten Bandes, die Vocale enthaltend, in dritter Auflage heraus.

Das Staunen, mit welchem das Werk bei seinem Erscheinen die Zeit¬
genossen erfüllte, vermag uns wohl nichts lebendiger vor die Augen zu führen
als die Art und Weise, mit der sich Jean Paul in dem erwähnten Streite
scherzend ausspricht (Ueber die deutschen Doppelwörter, Stuttgart 1820, fünftes
Postscript): „Mit Herrn Bibliothekar Grimm sollte mir ein seltenes Glück be¬
gegnen. Ich war nämlich so glücklich, daß ich seine deutsche Grammatik erst
in diesem Monate kennen lernte, also viel später als seinen Angriff meiner
12 kanonischen Apostelbriefe, der schon im zweiten Bande des Hermes auf
1819 steht. Himmel! wäre aber die Sache umgewandt gewesen, und ich hätte
den Verfasser der Grammatik nur Eine Woche früher gelesen als den Verfasser
des Angriffs: eine Leidenswoehe hätte ich ausgestanden und es wäre zu viel
gewesen!"

Und die Grammatik war auch wohl darnach angethan, ein solches Stau¬
nen zu rechtfertigen. Zuerst welche Bewältigung eines massenhaften Stoffes!
Alle deutschen Sprachzweige, Gothisch, Hochdeutsch, niederdeutsch, nieder¬
ländisch, Angelsächsisch, nordisch, schwedisch und Dänisch waren umfaßt und
fast alle von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, und mit einer fast er¬
schöpfenden Erörterung aller zugänglichen Quellen, deren viele Mancher, der
sich nicht ungelehrt däuchte, vielleicht noch nicht einmal dem Namen nach
kennen gelernt hatte. Wo hatte man so viel Gelehrsamkeit und so viel Stu¬
dium auf dem Gebiete des Deutschen schon nebeneinander gefunden? Sodann
die wunderbare Durchsichtigkeit der Anordnung und die hinreißende Behandlung
des völlig beherrschten Stoffes. Es halte Grimm mit genialen Blicke die
Form gefunden, zu gleicher Zeit eine darstellende, paradigmatisch belehrende,
eine historische und eine vergleichende Grammatik zu schreiben, ja über das
Gebiet der behandelten Sprache wiesen seine Fingerzeige auf die urverwandten
hin. Eine großartige, ergreifende Perspective eröffnete sich. Aber in diesen
Eigenschaften ist das eigentlich Epochemachende der grimmschen Grammatik


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[0298] wirrung und Unzusammenhang da, wo gerade, wenn man sich gewöhnt hat, das nie still Gestandene und nie still Stehende ins Auge zu fassen, eine un¬ endlich einfache, weise und tiefsinnige Austheilung der Lichter und Farben mehr und mehr erkannt werden wird." Noch in demselben Jahre erschien der erste Theil der „deutschen Grammatik", die Flexionslehre umfassend, der drei Jahre darauf in zweiter Auflage herauskam, vermehrt um ein ganz neues Capitel, die Lautlehre; 1826 folgte der zweite Band, der die Lehre von der Wortbildung enthielt, 1831 der dritte, von der Fortsetzung der Wortbildungs¬ lehre und dem Genus handelnd, 1837 der vierte, die Syntax des einfachen Satzes. Auch damit war das Werk noch nicht vollendet und die Syntax des zusammengesetzten Satzes ist unbearbeitet geblieben. 1840 kam ein Abschnitt des ersten Bandes, die Vocale enthaltend, in dritter Auflage heraus. Das Staunen, mit welchem das Werk bei seinem Erscheinen die Zeit¬ genossen erfüllte, vermag uns wohl nichts lebendiger vor die Augen zu führen als die Art und Weise, mit der sich Jean Paul in dem erwähnten Streite scherzend ausspricht (Ueber die deutschen Doppelwörter, Stuttgart 1820, fünftes Postscript): „Mit Herrn Bibliothekar Grimm sollte mir ein seltenes Glück be¬ gegnen. Ich war nämlich so glücklich, daß ich seine deutsche Grammatik erst in diesem Monate kennen lernte, also viel später als seinen Angriff meiner 12 kanonischen Apostelbriefe, der schon im zweiten Bande des Hermes auf 1819 steht. Himmel! wäre aber die Sache umgewandt gewesen, und ich hätte den Verfasser der Grammatik nur Eine Woche früher gelesen als den Verfasser des Angriffs: eine Leidenswoehe hätte ich ausgestanden und es wäre zu viel gewesen!" Und die Grammatik war auch wohl darnach angethan, ein solches Stau¬ nen zu rechtfertigen. Zuerst welche Bewältigung eines massenhaften Stoffes! Alle deutschen Sprachzweige, Gothisch, Hochdeutsch, niederdeutsch, nieder¬ ländisch, Angelsächsisch, nordisch, schwedisch und Dänisch waren umfaßt und fast alle von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, und mit einer fast er¬ schöpfenden Erörterung aller zugänglichen Quellen, deren viele Mancher, der sich nicht ungelehrt däuchte, vielleicht noch nicht einmal dem Namen nach kennen gelernt hatte. Wo hatte man so viel Gelehrsamkeit und so viel Stu¬ dium auf dem Gebiete des Deutschen schon nebeneinander gefunden? Sodann die wunderbare Durchsichtigkeit der Anordnung und die hinreißende Behandlung des völlig beherrschten Stoffes. Es halte Grimm mit genialen Blicke die Form gefunden, zu gleicher Zeit eine darstellende, paradigmatisch belehrende, eine historische und eine vergleichende Grammatik zu schreiben, ja über das Gebiet der behandelten Sprache wiesen seine Fingerzeige auf die urverwandten hin. Eine großartige, ergreifende Perspective eröffnete sich. Aber in diesen Eigenschaften ist das eigentlich Epochemachende der grimmschen Grammatik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/298>, abgerufen am 15.01.2025.