Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zur Wiedererweckung der altdeutschen Poesie war zuerst angeregt worden
durch I. I. Bodmer; dieser hatte den größten Theil der pariser Liederhand-
schrift,^>le zweite Hälfte des Nibelungenliedes, die Fabeln des Bonerius u. A.
theils herausgegeben, theils bearbeitet. Es hatte auch seinen Bemühungen an
Nachfolgern nicht gefehlt: Gottsched. Lessing. Casparson, Michaeler. Myller.
Eschenburg, F. Adelung, Grader u. A. waren nicht ohne Fleiß auf diesem Ge¬
biete thätig gewesen. Aber es waren gelehrte Spielereien geblieben, ein war¬
mes Interesse war nicht erregt, ein tieferes Verständniß nicht erzielt worden.
Nach dieser Richtung ist der Einfluß der romantischen Schule nicht hoch genug
anzuschlagen. Ohne bedeutendes produktives Talent besaßen die Romantiker
ein um so empfänglicheres receptives. Die Gabe der Anempfindung, der Assi-
milirung des poetischen Gehaltes auch im disparatesten Stoff und in der dis-
paratesten Form ward jetzt cultivirt und so der Grund zu einer neuen Wissen¬
schaft, der Literaturgeschichte, gelegt. Unter den einschlagenden Schriften war
epochemachend Ludwig Ticks Vorrede zu seiner Bearbeitung der Bodmenschen
Minnelieder, die 1803 erschien und die in den Partien, welche die seelische Be¬
deutung der Form und des Reims bei den mittelhochdeutschen Dichtern be¬
handeln, noch heute als vorzüglich gelten kann. Jacob Grimm hatte dies
Buch kennen gelernt, noch im Jahre 1831 war ihm der hinreißende Eindruck
gegenwärtig, den die Vorrede auf ihn gemachte hatte. Zum ersten Male hatte
er sich aus Savignys Bibliothek Bodmers Minnesinger im Originale geben
lassen. Das einmal erwachte Interesse wird in seinem lebhaften Geiste sort¬
gewirkt haben, aber für den Augenblick hatte es ihn noch nicht gefangen ge¬
nommen, Grimm war beim Studium der Rechtswissenschaft geblieben. Und
das dürfen wir wohl als ein Glück bezeichnen.

Je mehr bei einer Sache unser Herz betheiligt ist, um so schwerer wird
es, zu einer einfachen, zweckmäßigen Form der Darstellung zu gelangen. Das
gilt wie im Leben auch in der Wissenschaft. In Betreff des Studiums der
altdeutschen Poesie stand man damals an der Schwelle einer erst zu gründen¬
den Wissenschaft, für die eine Methode, eine Form der Behandlung noch nicht
vorlag. Alle diejenigen, die, ungeschult, nur.jugendlichen Eifer, nur ein volles,
warmes Herz zu ihr hinzubrachten, haben, selbst bei bedeutender Begabung, es nicht
vermocht, ihre Gesetze und Regeln zu entwerfen, sie sind Dilettanten geblieben,
die Görres, Büsching, von der Hagen u. A., und noch heute spüren wir die
Nachwirkungen dieser so natürlichen Erscheinung. Anders stand es mit Jacob
Grimm. Dieser hatte, wie wir gesehen, sich aus fremdem Gebiete unter treff¬
licher Leitung in streng wissenschaftlicher Methode geschult, und er hatte deren
Handhabung durch eigene Theilnahme an den Arbeiten seines Lehrers eingeübt.
So gestählt trat er, bereits 21 Jahre alt, an das Studium der deutschen
Sprache und Literatur.


36"

Zur Wiedererweckung der altdeutschen Poesie war zuerst angeregt worden
durch I. I. Bodmer; dieser hatte den größten Theil der pariser Liederhand-
schrift,^>le zweite Hälfte des Nibelungenliedes, die Fabeln des Bonerius u. A.
theils herausgegeben, theils bearbeitet. Es hatte auch seinen Bemühungen an
Nachfolgern nicht gefehlt: Gottsched. Lessing. Casparson, Michaeler. Myller.
Eschenburg, F. Adelung, Grader u. A. waren nicht ohne Fleiß auf diesem Ge¬
biete thätig gewesen. Aber es waren gelehrte Spielereien geblieben, ein war¬
mes Interesse war nicht erregt, ein tieferes Verständniß nicht erzielt worden.
Nach dieser Richtung ist der Einfluß der romantischen Schule nicht hoch genug
anzuschlagen. Ohne bedeutendes produktives Talent besaßen die Romantiker
ein um so empfänglicheres receptives. Die Gabe der Anempfindung, der Assi-
milirung des poetischen Gehaltes auch im disparatesten Stoff und in der dis-
paratesten Form ward jetzt cultivirt und so der Grund zu einer neuen Wissen¬
schaft, der Literaturgeschichte, gelegt. Unter den einschlagenden Schriften war
epochemachend Ludwig Ticks Vorrede zu seiner Bearbeitung der Bodmenschen
Minnelieder, die 1803 erschien und die in den Partien, welche die seelische Be¬
deutung der Form und des Reims bei den mittelhochdeutschen Dichtern be¬
handeln, noch heute als vorzüglich gelten kann. Jacob Grimm hatte dies
Buch kennen gelernt, noch im Jahre 1831 war ihm der hinreißende Eindruck
gegenwärtig, den die Vorrede auf ihn gemachte hatte. Zum ersten Male hatte
er sich aus Savignys Bibliothek Bodmers Minnesinger im Originale geben
lassen. Das einmal erwachte Interesse wird in seinem lebhaften Geiste sort¬
gewirkt haben, aber für den Augenblick hatte es ihn noch nicht gefangen ge¬
nommen, Grimm war beim Studium der Rechtswissenschaft geblieben. Und
das dürfen wir wohl als ein Glück bezeichnen.

Je mehr bei einer Sache unser Herz betheiligt ist, um so schwerer wird
es, zu einer einfachen, zweckmäßigen Form der Darstellung zu gelangen. Das
gilt wie im Leben auch in der Wissenschaft. In Betreff des Studiums der
altdeutschen Poesie stand man damals an der Schwelle einer erst zu gründen¬
den Wissenschaft, für die eine Methode, eine Form der Behandlung noch nicht
vorlag. Alle diejenigen, die, ungeschult, nur.jugendlichen Eifer, nur ein volles,
warmes Herz zu ihr hinzubrachten, haben, selbst bei bedeutender Begabung, es nicht
vermocht, ihre Gesetze und Regeln zu entwerfen, sie sind Dilettanten geblieben,
die Görres, Büsching, von der Hagen u. A., und noch heute spüren wir die
Nachwirkungen dieser so natürlichen Erscheinung. Anders stand es mit Jacob
Grimm. Dieser hatte, wie wir gesehen, sich aus fremdem Gebiete unter treff¬
licher Leitung in streng wissenschaftlicher Methode geschult, und er hatte deren
Handhabung durch eigene Theilnahme an den Arbeiten seines Lehrers eingeübt.
So gestählt trat er, bereits 21 Jahre alt, an das Studium der deutschen
Sprache und Literatur.


36"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116219"/>
          <p xml:id="ID_997"> Zur Wiedererweckung der altdeutschen Poesie war zuerst angeregt worden<lb/>
durch I. I. Bodmer; dieser hatte den größten Theil der pariser Liederhand-<lb/>
schrift,^&gt;le zweite Hälfte des Nibelungenliedes, die Fabeln des Bonerius u. A.<lb/>
theils herausgegeben, theils bearbeitet. Es hatte auch seinen Bemühungen an<lb/>
Nachfolgern nicht gefehlt: Gottsched. Lessing. Casparson, Michaeler. Myller.<lb/>
Eschenburg, F. Adelung, Grader u. A. waren nicht ohne Fleiß auf diesem Ge¬<lb/>
biete thätig gewesen. Aber es waren gelehrte Spielereien geblieben, ein war¬<lb/>
mes Interesse war nicht erregt, ein tieferes Verständniß nicht erzielt worden.<lb/>
Nach dieser Richtung ist der Einfluß der romantischen Schule nicht hoch genug<lb/>
anzuschlagen. Ohne bedeutendes produktives Talent besaßen die Romantiker<lb/>
ein um so empfänglicheres receptives. Die Gabe der Anempfindung, der Assi-<lb/>
milirung des poetischen Gehaltes auch im disparatesten Stoff und in der dis-<lb/>
paratesten Form ward jetzt cultivirt und so der Grund zu einer neuen Wissen¬<lb/>
schaft, der Literaturgeschichte, gelegt. Unter den einschlagenden Schriften war<lb/>
epochemachend Ludwig Ticks Vorrede zu seiner Bearbeitung der Bodmenschen<lb/>
Minnelieder, die 1803 erschien und die in den Partien, welche die seelische Be¬<lb/>
deutung der Form und des Reims bei den mittelhochdeutschen Dichtern be¬<lb/>
handeln, noch heute als vorzüglich gelten kann. Jacob Grimm hatte dies<lb/>
Buch kennen gelernt, noch im Jahre 1831 war ihm der hinreißende Eindruck<lb/>
gegenwärtig, den die Vorrede auf ihn gemachte hatte. Zum ersten Male hatte<lb/>
er sich aus Savignys Bibliothek Bodmers Minnesinger im Originale geben<lb/>
lassen. Das einmal erwachte Interesse wird in seinem lebhaften Geiste sort¬<lb/>
gewirkt haben, aber für den Augenblick hatte es ihn noch nicht gefangen ge¬<lb/>
nommen, Grimm war beim Studium der Rechtswissenschaft geblieben. Und<lb/>
das dürfen wir wohl als ein Glück bezeichnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_998"> Je mehr bei einer Sache unser Herz betheiligt ist, um so schwerer wird<lb/>
es, zu einer einfachen, zweckmäßigen Form der Darstellung zu gelangen. Das<lb/>
gilt wie im Leben auch in der Wissenschaft. In Betreff des Studiums der<lb/>
altdeutschen Poesie stand man damals an der Schwelle einer erst zu gründen¬<lb/>
den Wissenschaft, für die eine Methode, eine Form der Behandlung noch nicht<lb/>
vorlag. Alle diejenigen, die, ungeschult, nur.jugendlichen Eifer, nur ein volles,<lb/>
warmes Herz zu ihr hinzubrachten, haben, selbst bei bedeutender Begabung, es nicht<lb/>
vermocht, ihre Gesetze und Regeln zu entwerfen, sie sind Dilettanten geblieben,<lb/>
die Görres, Büsching, von der Hagen u. A., und noch heute spüren wir die<lb/>
Nachwirkungen dieser so natürlichen Erscheinung. Anders stand es mit Jacob<lb/>
Grimm. Dieser hatte, wie wir gesehen, sich aus fremdem Gebiete unter treff¬<lb/>
licher Leitung in streng wissenschaftlicher Methode geschult, und er hatte deren<lb/>
Handhabung durch eigene Theilnahme an den Arbeiten seines Lehrers eingeübt.<lb/>
So gestählt trat er, bereits 21 Jahre alt, an das Studium der deutschen<lb/>
Sprache und Literatur.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 36"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] Zur Wiedererweckung der altdeutschen Poesie war zuerst angeregt worden durch I. I. Bodmer; dieser hatte den größten Theil der pariser Liederhand- schrift,^>le zweite Hälfte des Nibelungenliedes, die Fabeln des Bonerius u. A. theils herausgegeben, theils bearbeitet. Es hatte auch seinen Bemühungen an Nachfolgern nicht gefehlt: Gottsched. Lessing. Casparson, Michaeler. Myller. Eschenburg, F. Adelung, Grader u. A. waren nicht ohne Fleiß auf diesem Ge¬ biete thätig gewesen. Aber es waren gelehrte Spielereien geblieben, ein war¬ mes Interesse war nicht erregt, ein tieferes Verständniß nicht erzielt worden. Nach dieser Richtung ist der Einfluß der romantischen Schule nicht hoch genug anzuschlagen. Ohne bedeutendes produktives Talent besaßen die Romantiker ein um so empfänglicheres receptives. Die Gabe der Anempfindung, der Assi- milirung des poetischen Gehaltes auch im disparatesten Stoff und in der dis- paratesten Form ward jetzt cultivirt und so der Grund zu einer neuen Wissen¬ schaft, der Literaturgeschichte, gelegt. Unter den einschlagenden Schriften war epochemachend Ludwig Ticks Vorrede zu seiner Bearbeitung der Bodmenschen Minnelieder, die 1803 erschien und die in den Partien, welche die seelische Be¬ deutung der Form und des Reims bei den mittelhochdeutschen Dichtern be¬ handeln, noch heute als vorzüglich gelten kann. Jacob Grimm hatte dies Buch kennen gelernt, noch im Jahre 1831 war ihm der hinreißende Eindruck gegenwärtig, den die Vorrede auf ihn gemachte hatte. Zum ersten Male hatte er sich aus Savignys Bibliothek Bodmers Minnesinger im Originale geben lassen. Das einmal erwachte Interesse wird in seinem lebhaften Geiste sort¬ gewirkt haben, aber für den Augenblick hatte es ihn noch nicht gefangen ge¬ nommen, Grimm war beim Studium der Rechtswissenschaft geblieben. Und das dürfen wir wohl als ein Glück bezeichnen. Je mehr bei einer Sache unser Herz betheiligt ist, um so schwerer wird es, zu einer einfachen, zweckmäßigen Form der Darstellung zu gelangen. Das gilt wie im Leben auch in der Wissenschaft. In Betreff des Studiums der altdeutschen Poesie stand man damals an der Schwelle einer erst zu gründen¬ den Wissenschaft, für die eine Methode, eine Form der Behandlung noch nicht vorlag. Alle diejenigen, die, ungeschult, nur.jugendlichen Eifer, nur ein volles, warmes Herz zu ihr hinzubrachten, haben, selbst bei bedeutender Begabung, es nicht vermocht, ihre Gesetze und Regeln zu entwerfen, sie sind Dilettanten geblieben, die Görres, Büsching, von der Hagen u. A., und noch heute spüren wir die Nachwirkungen dieser so natürlichen Erscheinung. Anders stand es mit Jacob Grimm. Dieser hatte, wie wir gesehen, sich aus fremdem Gebiete unter treff¬ licher Leitung in streng wissenschaftlicher Methode geschult, und er hatte deren Handhabung durch eigene Theilnahme an den Arbeiten seines Lehrers eingeübt. So gestählt trat er, bereits 21 Jahre alt, an das Studium der deutschen Sprache und Literatur. 36"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/291>, abgerufen am 15.01.2025.