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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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schwebte die Gestalt in der Einbildungskraft vor den Augen, und die Furcht
dauerte länger als die Ursache derselben. Das Haus blieb endlich leer und
verödet und ganz jenem Ungethüm überlassen. Doch wurde es ausgerufen, ob
es jemand kaufen oder miethen wollte, der von diesem großen Uebelstande
nichts wüßte. Der Philosoph Athenodoros kommt nach Athen, liest den An¬
schlag, und da er von dem Preise hört, der ihm'durch seine Wohlfeilheit ver¬
dächtig wird, erkundigt er sich, erfährt Alles und miethet sich nichts desto weniger
ein, ja sogar um so lieber. Als es anfängt Abend zu werden, läßt er sich in
dem vordersten Zimmer des Hauses sein Lag^r bereiten, fordert Schreibtafel
Griffel und Licht, entläßt alle seine Leute in die inneren Gemächer; er selbst
richtet Geist, Augen und Hand aufs Schreiben, damit nicht die Seele unbe¬
schäftigt sich die bekannte Gestalt und ein leeres Schattenbild schaffe. Anfangs
herrscht, wie überall, Stille der Nacht; bald aber klingt es wie Eisen, Ketten
rasseln. Jener schlägt die Augen nicht aus, legt den Griffel nicht nieder, son¬
dern ermuthigt seinen Geist und verwahrt sich gegen die Eindrücke des Gehörs:
jetzt wird das Getöse stärker, es nähert sich, jetzt scheint es aus der Schwelle,
jetzt im Zimmer zu sein; er blickt auf, sieht und erkennt die beschriebene Ge¬
stalt. Sie steht und winkt mit dem Finger, als wollte sie ihn rufen. Auch
er gibt ein Zeichen mit der Hand, ein wenig zu warten und fährt fort zu
schreiben. Da schüttelt sie die Ketten über seinem Haupt, während er schreibt:
er blickt auf, und sie winkt wieder, wie vorher. Jetzt zögert er nicht länger,
nimmt die Lampe und folgt. Jene schreitet langsam, w'le von den Ketten be¬
lastet; nachdem sie in den Hofraum des Hauses abgelenkt, verschwindet sie
plötzlich und läßt den Begleiter zurück. Dieser, allein geblieben, bricht Gras
und Blätter ab und bezeichnet damit die Stelle. Den folgenden Tag geht er
zu den Behörden und verlangt, sie sollen den Ort aufgraben lassen. Man
findet Gebeine, welche in Ketten geschlagen und damit umschlungen und von
dem durch die Zeit und in der Erde verwesten Körper nackt und entblößt in
den Fesseln geblieben waren: sie werden gesammelt und öffentlich begraben.
Von der Zeit an war das Haus von den gebührend zur Erde bestatteten Manen
befreit." -- Wie allgemein übrigens der Glaube an solche Häuser war, in denen
sich eine unglückliche, ruhelose Seele eingenistet haben sollte, steht man auch
aus der Komödie "Das Hausgespenst" von Plautus, wo der von einer längeren
Reise zurückkehrende Theuropides vom Betreten des unterdessen von seinem ver¬
schwenderischen Sohne durchgebrachten Hauses durch die Vorspiegelung abge¬
halten wird, als sei in seiner Abwesenheit demselben ein Geist erschienen, der
zu ihm sprach: "Ich bin der über das Meer gekommene Fremde Diapontios;
ich wohne hier; diese Wohnung ist mir angewiesen worden; denn Pluto wollte
mich nicht in die Unterwelt aufnehmen, weil ich zu frühzeitig ums Leben gekommen
bin. Durch Mißbrauch des Vertrauens täuschte man mich. Mein Gastfreund


schwebte die Gestalt in der Einbildungskraft vor den Augen, und die Furcht
dauerte länger als die Ursache derselben. Das Haus blieb endlich leer und
verödet und ganz jenem Ungethüm überlassen. Doch wurde es ausgerufen, ob
es jemand kaufen oder miethen wollte, der von diesem großen Uebelstande
nichts wüßte. Der Philosoph Athenodoros kommt nach Athen, liest den An¬
schlag, und da er von dem Preise hört, der ihm'durch seine Wohlfeilheit ver¬
dächtig wird, erkundigt er sich, erfährt Alles und miethet sich nichts desto weniger
ein, ja sogar um so lieber. Als es anfängt Abend zu werden, läßt er sich in
dem vordersten Zimmer des Hauses sein Lag^r bereiten, fordert Schreibtafel
Griffel und Licht, entläßt alle seine Leute in die inneren Gemächer; er selbst
richtet Geist, Augen und Hand aufs Schreiben, damit nicht die Seele unbe¬
schäftigt sich die bekannte Gestalt und ein leeres Schattenbild schaffe. Anfangs
herrscht, wie überall, Stille der Nacht; bald aber klingt es wie Eisen, Ketten
rasseln. Jener schlägt die Augen nicht aus, legt den Griffel nicht nieder, son¬
dern ermuthigt seinen Geist und verwahrt sich gegen die Eindrücke des Gehörs:
jetzt wird das Getöse stärker, es nähert sich, jetzt scheint es aus der Schwelle,
jetzt im Zimmer zu sein; er blickt auf, sieht und erkennt die beschriebene Ge¬
stalt. Sie steht und winkt mit dem Finger, als wollte sie ihn rufen. Auch
er gibt ein Zeichen mit der Hand, ein wenig zu warten und fährt fort zu
schreiben. Da schüttelt sie die Ketten über seinem Haupt, während er schreibt:
er blickt auf, und sie winkt wieder, wie vorher. Jetzt zögert er nicht länger,
nimmt die Lampe und folgt. Jene schreitet langsam, w'le von den Ketten be¬
lastet; nachdem sie in den Hofraum des Hauses abgelenkt, verschwindet sie
plötzlich und läßt den Begleiter zurück. Dieser, allein geblieben, bricht Gras
und Blätter ab und bezeichnet damit die Stelle. Den folgenden Tag geht er
zu den Behörden und verlangt, sie sollen den Ort aufgraben lassen. Man
findet Gebeine, welche in Ketten geschlagen und damit umschlungen und von
dem durch die Zeit und in der Erde verwesten Körper nackt und entblößt in
den Fesseln geblieben waren: sie werden gesammelt und öffentlich begraben.
Von der Zeit an war das Haus von den gebührend zur Erde bestatteten Manen
befreit." — Wie allgemein übrigens der Glaube an solche Häuser war, in denen
sich eine unglückliche, ruhelose Seele eingenistet haben sollte, steht man auch
aus der Komödie „Das Hausgespenst" von Plautus, wo der von einer längeren
Reise zurückkehrende Theuropides vom Betreten des unterdessen von seinem ver¬
schwenderischen Sohne durchgebrachten Hauses durch die Vorspiegelung abge¬
halten wird, als sei in seiner Abwesenheit demselben ein Geist erschienen, der
zu ihm sprach: „Ich bin der über das Meer gekommene Fremde Diapontios;
ich wohne hier; diese Wohnung ist mir angewiesen worden; denn Pluto wollte
mich nicht in die Unterwelt aufnehmen, weil ich zu frühzeitig ums Leben gekommen
bin. Durch Mißbrauch des Vertrauens täuschte man mich. Mein Gastfreund


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/268>, abgerufen am 15.01.2025.