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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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nahe in allen seinen Einzelheiten mit demjenigen überein, welches den alten
Griechen und Römern vorschwebte; ja es ließe sich unschwer der Beweis führen,
daß unser Gespensterglaube seinen Hauptbestandtheilen nach geradezu ein Erb¬
stück aus dem classischen Heidenthum sei, besonders aus dessen sinkender Periode,
wo so viele Elemente des riesig wuchernden Aberglaubens sich in die christliche
Kirche einschlichen, deren Dogmen das directe Eingreifen der Geister und Dä¬
monen in die Sinnenwelt ja selbst nicht in Abrede stellten. Auf der andern
Seite könnte man freilich auch mit einigem Rechte meinen, daß sich der Geist,
wenn er von seiner Unsichtbarkeit absehen und mit der Absicht, erkannt zu wer-
den, in den Bereich der menschlichen Sinne kommen will, überhaupt gar nicht
anders manifestiren könne, als wie ihn jetzt die Spiegel ohne Folie auf die
Bühne zaubern: als Reflex des wirklichen Körpers, mit bloßer Scheinrealität
begabt, "ein Mittelding zwischen Nichts und Etwas". Diese Vorstellung findet
sich schon bei Homer und hat sich in der späteren historischen Zeit fast um nichts
geändert. Nur beschränkte sich bei den Hellenen und dann auch bei den Römern
dieser Glaube nicht blos auf das Sichtbarwerden, die Erscheinung der körper-
losen Seele, sondern erstreckte sich auch auf die Fortexistenz derselben nach dem
diesseitigen Leben überhaupt. Der Heitere war eben noch nicht bis zum Bruch
zwischen Geist und Natur vorgeschritten. Sein einziges Streben ging dahin,
Mensch zu sein, sich wohl zu fühlen auf Erden und die schöne, harmonische
Menschlichkeit in gleichmäßiger Ausbildung des Geistes und Körpers zu ent¬
falten. Was über das irdische Leben hinauslag, war ihm also nichts Erfreu
liebes, er konnte bei dem Tausche nur verlieren. Darum stehen die Todten viel
tiefer als die Lebenden, und man begreift, mit welchem Rechte Homer den ge¬
storbenen Achilleus in der Unterwelt zu Odysseus sagen läßt: "Preise mir nicht
den Tod an! Lieber möchte ich Ackerknecht bei einem unbegüterten Manne sein,
dem kein reichlicher Lebensunterhalt ist, als über alle entschwundenen Todten
herrschen!" War nämlich die Psyche aus dem Munde oder in der Schlacht aus
der empfangenen Wunde entflohen, so enteilte sie nach dem Hades, um dort,
so lange der Körper unbegraben blieb, ruhelos und einsam vor der Pforte her-
umzuirren oder nach erfolgter Bestattung sich zu den Abgeschiedenen zu gesellen
und nun ans der dunkeln, einförmigen Asphodeloswiese auf und ab zu schweben,
oder in düsteren Weiden- und Silberpappelhainen die Ewigkeit zu verträumen.
Der Dichter nennt die Seelen der Todten "Schatten", "unstäte Wesen", "Bil¬
der". Die Muskelstärke und Spannkraft ist ihren Gliedern entschwunden; "denn
nicht mehr halten die Sehnen das Fleisch und die Knochen zusammen"; sie
sind lustig und consistenzlos. "Dreimal", erzählt Odysseus, "gedachte ich die
Seele meiner verstorbenen Mutter zu fassen; dreimal eilte ich auf sie zu, dreimal
entflog sie mir aus den Händen, einem Schatten ähnlich und einer Traumge-
stalt". Auch dem Achilleus gelingt es nicht, die Erscheinung seines geliebten


nahe in allen seinen Einzelheiten mit demjenigen überein, welches den alten
Griechen und Römern vorschwebte; ja es ließe sich unschwer der Beweis führen,
daß unser Gespensterglaube seinen Hauptbestandtheilen nach geradezu ein Erb¬
stück aus dem classischen Heidenthum sei, besonders aus dessen sinkender Periode,
wo so viele Elemente des riesig wuchernden Aberglaubens sich in die christliche
Kirche einschlichen, deren Dogmen das directe Eingreifen der Geister und Dä¬
monen in die Sinnenwelt ja selbst nicht in Abrede stellten. Auf der andern
Seite könnte man freilich auch mit einigem Rechte meinen, daß sich der Geist,
wenn er von seiner Unsichtbarkeit absehen und mit der Absicht, erkannt zu wer-
den, in den Bereich der menschlichen Sinne kommen will, überhaupt gar nicht
anders manifestiren könne, als wie ihn jetzt die Spiegel ohne Folie auf die
Bühne zaubern: als Reflex des wirklichen Körpers, mit bloßer Scheinrealität
begabt, „ein Mittelding zwischen Nichts und Etwas". Diese Vorstellung findet
sich schon bei Homer und hat sich in der späteren historischen Zeit fast um nichts
geändert. Nur beschränkte sich bei den Hellenen und dann auch bei den Römern
dieser Glaube nicht blos auf das Sichtbarwerden, die Erscheinung der körper-
losen Seele, sondern erstreckte sich auch auf die Fortexistenz derselben nach dem
diesseitigen Leben überhaupt. Der Heitere war eben noch nicht bis zum Bruch
zwischen Geist und Natur vorgeschritten. Sein einziges Streben ging dahin,
Mensch zu sein, sich wohl zu fühlen auf Erden und die schöne, harmonische
Menschlichkeit in gleichmäßiger Ausbildung des Geistes und Körpers zu ent¬
falten. Was über das irdische Leben hinauslag, war ihm also nichts Erfreu
liebes, er konnte bei dem Tausche nur verlieren. Darum stehen die Todten viel
tiefer als die Lebenden, und man begreift, mit welchem Rechte Homer den ge¬
storbenen Achilleus in der Unterwelt zu Odysseus sagen läßt: „Preise mir nicht
den Tod an! Lieber möchte ich Ackerknecht bei einem unbegüterten Manne sein,
dem kein reichlicher Lebensunterhalt ist, als über alle entschwundenen Todten
herrschen!" War nämlich die Psyche aus dem Munde oder in der Schlacht aus
der empfangenen Wunde entflohen, so enteilte sie nach dem Hades, um dort,
so lange der Körper unbegraben blieb, ruhelos und einsam vor der Pforte her-
umzuirren oder nach erfolgter Bestattung sich zu den Abgeschiedenen zu gesellen
und nun ans der dunkeln, einförmigen Asphodeloswiese auf und ab zu schweben,
oder in düsteren Weiden- und Silberpappelhainen die Ewigkeit zu verträumen.
Der Dichter nennt die Seelen der Todten „Schatten", „unstäte Wesen", „Bil¬
der". Die Muskelstärke und Spannkraft ist ihren Gliedern entschwunden; „denn
nicht mehr halten die Sehnen das Fleisch und die Knochen zusammen"; sie
sind lustig und consistenzlos. „Dreimal", erzählt Odysseus, „gedachte ich die
Seele meiner verstorbenen Mutter zu fassen; dreimal eilte ich auf sie zu, dreimal
entflog sie mir aus den Händen, einem Schatten ähnlich und einer Traumge-
stalt". Auch dem Achilleus gelingt es nicht, die Erscheinung seines geliebten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/263>, abgerufen am 15.01.2025.