Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bringen. Deshalb lehnen sie sich an keine bestimmte Schule an und sind ge-
schworne Feinde der Akademien, da diese die Individualität des Künstlers
untergraben, indem sie ihn lehren nach Schablonen zu arbeiten? Dagegen legen
sie den größten Nachdruck auf das eingeborne Talent, die specifische Anlage
des künstlerischen Auges und die Eigenthümlichkeit der bildenden Phantasie so¬
wohl als der Empfindung und erklären sich damit gegen jede erzählende Dar¬
stellung, mag sie sich nun auf dem Gebiete der Geschichte oder des gewöhnlichen
Lebens bewegen. Denn die 'Malerei soll nach ihrer Vorstellung nicht ein be¬
stimmtes Geschehen, eine sich verlaufende Begebenheit, sondern ein einfach er¬
fülltes Dasein, ganz durchdrungen von der gesammelten Stimmung des Mo¬
mentes, zum Ausdruck bringen.

Zunächst ist die Pieta von Anselm Feuerbach zu erwähnen, unter den
hierher gehörigen Bildern durch die eigenthümliche Behandlung des bekannten
Motivs besonders bemerkenswerth. Die hergebrachte typische Auffassung ist
ganz aufgegeben, an die Stelle der Jdcalgestalt Christi das Abbild eines realen
Menschen ohne jede Verklärung getreten. Maria, dem Beschauer mit dem
Rücken zugekehrt, ist mit der Bewegung eines mehr sich hingebenden als ver¬
zweifelnden Schmerzes über dem Leichnam zusammengesunken; die Höhle, in
der beide liegen, öffnet sich links ins Freie, und hier knieen -- eine ganz neue
Bereicherung des Motivs -- vom Abendhimmel sich absehend, drei Frauen¬
gestalten in fast gleichartiger Stellung mit dem Ausdruck gefaßter Trauer. Dem
Bilde ist eine eigene anziehende Wirkung nicht abzusprechen. Kaum haben wir
es hier noch mit einer religiösen Darstellung zu thun; der Vorgang ist ein¬
fach ins rein Menschliche übersetzt und in die Realität des Lebens zurückgeführt.
Eine solche Auffassung der christlichen Mythe kann nur willkommen sein; denn
sie zeigt, daß die Stosse derselben, welche für die Gegenwart ganz unbrauchbar
zu werden drohten, noch immer dankbare Motive abgeben können. Es handelt
sich nur darum, den trüben Nebel der Heiligkeit und Uebernatürlichkeit, der sie
noch immer umhüllt, obwohl er für das moderne Bewußtsein ein für alle Mal
zerflossen ist, entschieden fallen zu lassen. So gut das Christenthum in seiner
großen einfach menschlichen Bedeutung noch immer lebendig ist und erst recht
lebendig werden kann, so gut kann das Leben seines Gründers noch immer
Gegenstand der Kunst sein, wenn nur diese in ihm nicht mehr den Sohn
Gottes sieht, sondern einfach den großen Menschen zu fassen sucht. Und es
ist nicht zu läugnen, Feuerbach hat es vermocht, einen der ergreifendsten Mo¬
mente dieses Mythenkreises unserer Empfindung nahe zu bringen. Allerdings
nicht durch eine große Auffassung, welche die Bedeutung des Motivs in mäch¬
tigen Formen zum Ausdruck brächte, sondern durch eine malerische Behandlung,
welche mit moderner Empfindung den Gegenstand in das gegenwärtige Leben
und in das stimmungsvolle Element von Farbe und Ton ganz hereinzieht.


bringen. Deshalb lehnen sie sich an keine bestimmte Schule an und sind ge-
schworne Feinde der Akademien, da diese die Individualität des Künstlers
untergraben, indem sie ihn lehren nach Schablonen zu arbeiten? Dagegen legen
sie den größten Nachdruck auf das eingeborne Talent, die specifische Anlage
des künstlerischen Auges und die Eigenthümlichkeit der bildenden Phantasie so¬
wohl als der Empfindung und erklären sich damit gegen jede erzählende Dar¬
stellung, mag sie sich nun auf dem Gebiete der Geschichte oder des gewöhnlichen
Lebens bewegen. Denn die 'Malerei soll nach ihrer Vorstellung nicht ein be¬
stimmtes Geschehen, eine sich verlaufende Begebenheit, sondern ein einfach er¬
fülltes Dasein, ganz durchdrungen von der gesammelten Stimmung des Mo¬
mentes, zum Ausdruck bringen.

Zunächst ist die Pieta von Anselm Feuerbach zu erwähnen, unter den
hierher gehörigen Bildern durch die eigenthümliche Behandlung des bekannten
Motivs besonders bemerkenswerth. Die hergebrachte typische Auffassung ist
ganz aufgegeben, an die Stelle der Jdcalgestalt Christi das Abbild eines realen
Menschen ohne jede Verklärung getreten. Maria, dem Beschauer mit dem
Rücken zugekehrt, ist mit der Bewegung eines mehr sich hingebenden als ver¬
zweifelnden Schmerzes über dem Leichnam zusammengesunken; die Höhle, in
der beide liegen, öffnet sich links ins Freie, und hier knieen — eine ganz neue
Bereicherung des Motivs — vom Abendhimmel sich absehend, drei Frauen¬
gestalten in fast gleichartiger Stellung mit dem Ausdruck gefaßter Trauer. Dem
Bilde ist eine eigene anziehende Wirkung nicht abzusprechen. Kaum haben wir
es hier noch mit einer religiösen Darstellung zu thun; der Vorgang ist ein¬
fach ins rein Menschliche übersetzt und in die Realität des Lebens zurückgeführt.
Eine solche Auffassung der christlichen Mythe kann nur willkommen sein; denn
sie zeigt, daß die Stosse derselben, welche für die Gegenwart ganz unbrauchbar
zu werden drohten, noch immer dankbare Motive abgeben können. Es handelt
sich nur darum, den trüben Nebel der Heiligkeit und Uebernatürlichkeit, der sie
noch immer umhüllt, obwohl er für das moderne Bewußtsein ein für alle Mal
zerflossen ist, entschieden fallen zu lassen. So gut das Christenthum in seiner
großen einfach menschlichen Bedeutung noch immer lebendig ist und erst recht
lebendig werden kann, so gut kann das Leben seines Gründers noch immer
Gegenstand der Kunst sein, wenn nur diese in ihm nicht mehr den Sohn
Gottes sieht, sondern einfach den großen Menschen zu fassen sucht. Und es
ist nicht zu läugnen, Feuerbach hat es vermocht, einen der ergreifendsten Mo¬
mente dieses Mythenkreises unserer Empfindung nahe zu bringen. Allerdings
nicht durch eine große Auffassung, welche die Bedeutung des Motivs in mäch¬
tigen Formen zum Ausdruck brächte, sondern durch eine malerische Behandlung,
welche mit moderner Empfindung den Gegenstand in das gegenwärtige Leben
und in das stimmungsvolle Element von Farbe und Ton ganz hereinzieht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116178"/>
          <p xml:id="ID_899" prev="#ID_898"> bringen. Deshalb lehnen sie sich an keine bestimmte Schule an und sind ge-<lb/>
schworne Feinde der Akademien, da diese die Individualität des Künstlers<lb/>
untergraben, indem sie ihn lehren nach Schablonen zu arbeiten? Dagegen legen<lb/>
sie den größten Nachdruck auf das eingeborne Talent, die specifische Anlage<lb/>
des künstlerischen Auges und die Eigenthümlichkeit der bildenden Phantasie so¬<lb/>
wohl als der Empfindung und erklären sich damit gegen jede erzählende Dar¬<lb/>
stellung, mag sie sich nun auf dem Gebiete der Geschichte oder des gewöhnlichen<lb/>
Lebens bewegen. Denn die 'Malerei soll nach ihrer Vorstellung nicht ein be¬<lb/>
stimmtes Geschehen, eine sich verlaufende Begebenheit, sondern ein einfach er¬<lb/>
fülltes Dasein, ganz durchdrungen von der gesammelten Stimmung des Mo¬<lb/>
mentes, zum Ausdruck bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_900" next="#ID_901"> Zunächst ist die Pieta von Anselm Feuerbach zu erwähnen, unter den<lb/>
hierher gehörigen Bildern durch die eigenthümliche Behandlung des bekannten<lb/>
Motivs besonders bemerkenswerth. Die hergebrachte typische Auffassung ist<lb/>
ganz aufgegeben, an die Stelle der Jdcalgestalt Christi das Abbild eines realen<lb/>
Menschen ohne jede Verklärung getreten. Maria, dem Beschauer mit dem<lb/>
Rücken zugekehrt, ist mit der Bewegung eines mehr sich hingebenden als ver¬<lb/>
zweifelnden Schmerzes über dem Leichnam zusammengesunken; die Höhle, in<lb/>
der beide liegen, öffnet sich links ins Freie, und hier knieen &#x2014; eine ganz neue<lb/>
Bereicherung des Motivs &#x2014; vom Abendhimmel sich absehend, drei Frauen¬<lb/>
gestalten in fast gleichartiger Stellung mit dem Ausdruck gefaßter Trauer. Dem<lb/>
Bilde ist eine eigene anziehende Wirkung nicht abzusprechen. Kaum haben wir<lb/>
es hier noch mit einer religiösen Darstellung zu thun; der Vorgang ist ein¬<lb/>
fach ins rein Menschliche übersetzt und in die Realität des Lebens zurückgeführt.<lb/>
Eine solche Auffassung der christlichen Mythe kann nur willkommen sein; denn<lb/>
sie zeigt, daß die Stosse derselben, welche für die Gegenwart ganz unbrauchbar<lb/>
zu werden drohten, noch immer dankbare Motive abgeben können. Es handelt<lb/>
sich nur darum, den trüben Nebel der Heiligkeit und Uebernatürlichkeit, der sie<lb/>
noch immer umhüllt, obwohl er für das moderne Bewußtsein ein für alle Mal<lb/>
zerflossen ist, entschieden fallen zu lassen. So gut das Christenthum in seiner<lb/>
großen einfach menschlichen Bedeutung noch immer lebendig ist und erst recht<lb/>
lebendig werden kann, so gut kann das Leben seines Gründers noch immer<lb/>
Gegenstand der Kunst sein, wenn nur diese in ihm nicht mehr den Sohn<lb/>
Gottes sieht, sondern einfach den großen Menschen zu fassen sucht. Und es<lb/>
ist nicht zu läugnen, Feuerbach hat es vermocht, einen der ergreifendsten Mo¬<lb/>
mente dieses Mythenkreises unserer Empfindung nahe zu bringen. Allerdings<lb/>
nicht durch eine große Auffassung, welche die Bedeutung des Motivs in mäch¬<lb/>
tigen Formen zum Ausdruck brächte, sondern durch eine malerische Behandlung,<lb/>
welche mit moderner Empfindung den Gegenstand in das gegenwärtige Leben<lb/>
und in das stimmungsvolle Element von Farbe und Ton ganz hereinzieht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0250] bringen. Deshalb lehnen sie sich an keine bestimmte Schule an und sind ge- schworne Feinde der Akademien, da diese die Individualität des Künstlers untergraben, indem sie ihn lehren nach Schablonen zu arbeiten? Dagegen legen sie den größten Nachdruck auf das eingeborne Talent, die specifische Anlage des künstlerischen Auges und die Eigenthümlichkeit der bildenden Phantasie so¬ wohl als der Empfindung und erklären sich damit gegen jede erzählende Dar¬ stellung, mag sie sich nun auf dem Gebiete der Geschichte oder des gewöhnlichen Lebens bewegen. Denn die 'Malerei soll nach ihrer Vorstellung nicht ein be¬ stimmtes Geschehen, eine sich verlaufende Begebenheit, sondern ein einfach er¬ fülltes Dasein, ganz durchdrungen von der gesammelten Stimmung des Mo¬ mentes, zum Ausdruck bringen. Zunächst ist die Pieta von Anselm Feuerbach zu erwähnen, unter den hierher gehörigen Bildern durch die eigenthümliche Behandlung des bekannten Motivs besonders bemerkenswerth. Die hergebrachte typische Auffassung ist ganz aufgegeben, an die Stelle der Jdcalgestalt Christi das Abbild eines realen Menschen ohne jede Verklärung getreten. Maria, dem Beschauer mit dem Rücken zugekehrt, ist mit der Bewegung eines mehr sich hingebenden als ver¬ zweifelnden Schmerzes über dem Leichnam zusammengesunken; die Höhle, in der beide liegen, öffnet sich links ins Freie, und hier knieen — eine ganz neue Bereicherung des Motivs — vom Abendhimmel sich absehend, drei Frauen¬ gestalten in fast gleichartiger Stellung mit dem Ausdruck gefaßter Trauer. Dem Bilde ist eine eigene anziehende Wirkung nicht abzusprechen. Kaum haben wir es hier noch mit einer religiösen Darstellung zu thun; der Vorgang ist ein¬ fach ins rein Menschliche übersetzt und in die Realität des Lebens zurückgeführt. Eine solche Auffassung der christlichen Mythe kann nur willkommen sein; denn sie zeigt, daß die Stosse derselben, welche für die Gegenwart ganz unbrauchbar zu werden drohten, noch immer dankbare Motive abgeben können. Es handelt sich nur darum, den trüben Nebel der Heiligkeit und Uebernatürlichkeit, der sie noch immer umhüllt, obwohl er für das moderne Bewußtsein ein für alle Mal zerflossen ist, entschieden fallen zu lassen. So gut das Christenthum in seiner großen einfach menschlichen Bedeutung noch immer lebendig ist und erst recht lebendig werden kann, so gut kann das Leben seines Gründers noch immer Gegenstand der Kunst sein, wenn nur diese in ihm nicht mehr den Sohn Gottes sieht, sondern einfach den großen Menschen zu fassen sucht. Und es ist nicht zu läugnen, Feuerbach hat es vermocht, einen der ergreifendsten Mo¬ mente dieses Mythenkreises unserer Empfindung nahe zu bringen. Allerdings nicht durch eine große Auffassung, welche die Bedeutung des Motivs in mäch¬ tigen Formen zum Ausdruck brächte, sondern durch eine malerische Behandlung, welche mit moderner Empfindung den Gegenstand in das gegenwärtige Leben und in das stimmungsvolle Element von Farbe und Ton ganz hereinzieht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/250
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/250>, abgerufen am 15.01.2025.