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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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war kaum möglich, daß einem solchen Mann nicht die Verstellung zur andern
Natur wurde. Gerade ein edel angelegter Mensch mußte durch die stete Be¬
rührung mit einer bis ins Mark verderbten Gesellschaft, der er sich nicht ent¬
ziehen konnte, zu systematischer Menschenverachtung erzogen werden: ist es
dann zu verwundern, daß der Menschcnvcrächter im Besitze schwindelnder Macht¬
fülle versucht ist,' sich über die Rechte und das Leben seiner Mitmenschen hinweg¬
zusetzen, daß seine Menschenverachtung in Härte, in Grausamkeit übergeht?
Auch wir sind überzeugt, daß Tiberius eine im Grunde edle Natur war; ihn
aber eine Theilung der Herrschaft mit einem zur Tugend anzuleitenden Senate
anstreben und nach dem Scheitern dieses Plans sich einem Sejanus in die
Arme werfen lassen, und die nicht abzuleugnenden Greuel seiner späteren Re¬
gierungszeit auf Rechnung des Sejanus oder gar eines periodischen Irrsinnes
setzen. heißt einen hartherzigen und kräftigen Herrscher gegen einen guten, aber
aus Idealismus schwachen Menschen eintauschen. Mögen die Freunde des Tibe¬
rius zusehen, ob ein solcher Tausch für sein Andenken vvltheilhaft ist. Uns
dünkt, man wird ihm, selbst in menschlicher Hinsicht, gerechter, wenn man ihn
vom Anfange seiner Negierung an in bewußtem Gegensatz zu seinen Um¬
gebungen auffaßt. In dem Zustande der Nothwehr, in welchen Tiberius durch
Sejanus verseht war und der in diesem Falle sein macchiavellisiischcs Verfahren
rechtfertigt, befand er sich, nicht so handgreiflich, aber darum nicht minder
unbestreitbar, während seiner ganzen Regierungszeit durch die ihn hassende und
von ihm verachtete Aristokratie: er hatte nur die Wahl, ihr gegenüber Ambos
oder Hammer zu sein, und ist ihr sein Leben lang das Letztere gewesen. Dem
Senat gewährte er den Schein völliger Freiheit im Handeln, weil er bei der
Niederträchtigkeit dieser Körperschaft sicher war, daß von dieser Freiheit stets
nur der ihm genehme Gebrauch gemacht werden würde. Er ließ den verkomme¬
nen römischen Adel durch Sclvstanklagen sich zerfleischen und hatte den Vor¬
theil, daß alles Odium der Processe und Verurteilungen auf den Senat siel,
während er selbst bei den eclatantcstcn Uebertreibungen des Servilismus ein¬
schreiten und sich dadurch das Ansehen der Milde wahren konnte. Erst als
mit dem Heranwachsen der Söhne des Germanicus die oppositionellen Ele¬
mente einen Sammelpunkt gefunden hatten und der herausfordernde Trotz und
der Leichtsinn der jungen Männer ihn für seinen Thron fürchten ließen, ward
eine straffere Anziehung der Zügel nöthig, und Tiberius zog sich, um durch die
bevorstehenden, vor Gesetz und Moral gleich schwer zu verantwortenden Ma߬
regeln erbarmungsloser Strenge den Ruf der Krone so wenig als möglich zu
compromittiren, auf die Insel Capri zurück, die Gehässigkeit der Ausführung
seinem Stellvertreter Sejanus überlassend. Als dieser die ihm übertragene
Machtvollkommenheit zu selbstsüchtigen Zwecken auszubeuten Miene machte,
schritt Tiberius, in der bekannten Weise gegen ihn ein, gewiß nicht aus dem


war kaum möglich, daß einem solchen Mann nicht die Verstellung zur andern
Natur wurde. Gerade ein edel angelegter Mensch mußte durch die stete Be¬
rührung mit einer bis ins Mark verderbten Gesellschaft, der er sich nicht ent¬
ziehen konnte, zu systematischer Menschenverachtung erzogen werden: ist es
dann zu verwundern, daß der Menschcnvcrächter im Besitze schwindelnder Macht¬
fülle versucht ist,' sich über die Rechte und das Leben seiner Mitmenschen hinweg¬
zusetzen, daß seine Menschenverachtung in Härte, in Grausamkeit übergeht?
Auch wir sind überzeugt, daß Tiberius eine im Grunde edle Natur war; ihn
aber eine Theilung der Herrschaft mit einem zur Tugend anzuleitenden Senate
anstreben und nach dem Scheitern dieses Plans sich einem Sejanus in die
Arme werfen lassen, und die nicht abzuleugnenden Greuel seiner späteren Re¬
gierungszeit auf Rechnung des Sejanus oder gar eines periodischen Irrsinnes
setzen. heißt einen hartherzigen und kräftigen Herrscher gegen einen guten, aber
aus Idealismus schwachen Menschen eintauschen. Mögen die Freunde des Tibe¬
rius zusehen, ob ein solcher Tausch für sein Andenken vvltheilhaft ist. Uns
dünkt, man wird ihm, selbst in menschlicher Hinsicht, gerechter, wenn man ihn
vom Anfange seiner Negierung an in bewußtem Gegensatz zu seinen Um¬
gebungen auffaßt. In dem Zustande der Nothwehr, in welchen Tiberius durch
Sejanus verseht war und der in diesem Falle sein macchiavellisiischcs Verfahren
rechtfertigt, befand er sich, nicht so handgreiflich, aber darum nicht minder
unbestreitbar, während seiner ganzen Regierungszeit durch die ihn hassende und
von ihm verachtete Aristokratie: er hatte nur die Wahl, ihr gegenüber Ambos
oder Hammer zu sein, und ist ihr sein Leben lang das Letztere gewesen. Dem
Senat gewährte er den Schein völliger Freiheit im Handeln, weil er bei der
Niederträchtigkeit dieser Körperschaft sicher war, daß von dieser Freiheit stets
nur der ihm genehme Gebrauch gemacht werden würde. Er ließ den verkomme¬
nen römischen Adel durch Sclvstanklagen sich zerfleischen und hatte den Vor¬
theil, daß alles Odium der Processe und Verurteilungen auf den Senat siel,
während er selbst bei den eclatantcstcn Uebertreibungen des Servilismus ein¬
schreiten und sich dadurch das Ansehen der Milde wahren konnte. Erst als
mit dem Heranwachsen der Söhne des Germanicus die oppositionellen Ele¬
mente einen Sammelpunkt gefunden hatten und der herausfordernde Trotz und
der Leichtsinn der jungen Männer ihn für seinen Thron fürchten ließen, ward
eine straffere Anziehung der Zügel nöthig, und Tiberius zog sich, um durch die
bevorstehenden, vor Gesetz und Moral gleich schwer zu verantwortenden Ma߬
regeln erbarmungsloser Strenge den Ruf der Krone so wenig als möglich zu
compromittiren, auf die Insel Capri zurück, die Gehässigkeit der Ausführung
seinem Stellvertreter Sejanus überlassend. Als dieser die ihm übertragene
Machtvollkommenheit zu selbstsüchtigen Zwecken auszubeuten Miene machte,
schritt Tiberius, in der bekannten Weise gegen ihn ein, gewiß nicht aus dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/22>, abgerufen am 15.01.2025.