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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Neue Bücher über römische Geschichte.
Adolf Stahr, Tiberius. Berlin, Verlag von I. Guttcntag. 1863. (VIII und
332 S.) 8.

Daß Tiberius ein ungewöhnlich begabter und tüchtiger Regent gewesen ist.
wird jetzt ziemlich allgemein anerkannt, dagegen ist mit jeder Ehrenrettung
des Tiberius als Menschen ein großer Uebelstand verbunden: sie wird noth¬
wendig zugleich eine Herabdrückung der Glaubwürdigkeit des Tacitus sein. Da nun
Tacitus der Hauptzeuge und. insoweit es sich um politische Urteilsfähigkeit
handelt, sogar der einzige den Namen eines Historikers verdienende Gewährs¬
mann über das Leben des Tiberius ist*), so wird der Beurtheilung, sobald ihm
der Glaube versagt wird, der Boden unter den Füßen weggezogen, und die
Phantasie hat den freiesten Spielraum.

Am auffälligsten tritt dies durch die bedeutendste der bisherigen Rettungen
des Tiberius, die von G. N. Siepers, hervor. Nachdem dieser im Allgemeinen
die Gründe angeführt, welche für eine Voreingenommenheit des Tacitus gegen
Tiberius sprechen, geht er alle in den Annalen berichteten, den Charakter des
Tiberius compromittircnden Fälle einzeln durch, bei jedem hinzufügend, es
werde wohl nicht so schlimm gewesen sein, die Opfer der Staatsprocesse wür¬
den ihr Loos wohl verdient haben, ohne doch bei der Beschaffenheit der Quel¬
len kaum jemals einen thatsächlichen Gegenbeweis beibringen zu können. Wir
bekennen offen, daß dieses Benörgeln. weit entfernt zu überzeugen, auf uns
einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat. In dem mit großem Geschick ge¬
schriebenen Buche Stahrs ist diese Klippe vermieden: derselbe beschränkt sich
streng auf das Amt des Biographen und geht in das Detail der Ereignisse
aus der Regierung des Tiberius nur insoweit ein, als es zum Verständnisse
des Entwickelungsgangs seines Helden nothwendig ist. Freilich sind damit die
Schwierigkeiten nur vertuscht, welche die ehrliche Gründlichkeit Herrn Siepers
offen hervortreten ließ. Gibt man aber die Prämisse, die Parteilichkeit des
Tacitus**) zu, so wird man die ftahrsche Charakterschilderung des Tiberius und
ganz besonders die des Sejanus als Meisterstücke feiner psychologischer Ent¬
wicklung annehmen müssen, und wir glauben gern, daß sich Leser, welche in
römischer Kaiscrgeschichte nicht schon sehr bewandert sind, der bestechenden Aus¬
fassung Stahrs ohne Weiteres gefangen geben werden.

Stahr sieht in Tiberius einen edlen, ideal angelegten Menschen, der sich




Die> schreibt zu spät, als daß er mit Tacitus zusammengestellt werden könnte.
"*'
) Stahr trägt die Farben etwas stark auf; er redet einmal sogar von der raubergcschicht-
licheu Färbung eines Berichtes des Tacitus.
Neue Bücher über römische Geschichte.
Adolf Stahr, Tiberius. Berlin, Verlag von I. Guttcntag. 1863. (VIII und
332 S.) 8.

Daß Tiberius ein ungewöhnlich begabter und tüchtiger Regent gewesen ist.
wird jetzt ziemlich allgemein anerkannt, dagegen ist mit jeder Ehrenrettung
des Tiberius als Menschen ein großer Uebelstand verbunden: sie wird noth¬
wendig zugleich eine Herabdrückung der Glaubwürdigkeit des Tacitus sein. Da nun
Tacitus der Hauptzeuge und. insoweit es sich um politische Urteilsfähigkeit
handelt, sogar der einzige den Namen eines Historikers verdienende Gewährs¬
mann über das Leben des Tiberius ist*), so wird der Beurtheilung, sobald ihm
der Glaube versagt wird, der Boden unter den Füßen weggezogen, und die
Phantasie hat den freiesten Spielraum.

Am auffälligsten tritt dies durch die bedeutendste der bisherigen Rettungen
des Tiberius, die von G. N. Siepers, hervor. Nachdem dieser im Allgemeinen
die Gründe angeführt, welche für eine Voreingenommenheit des Tacitus gegen
Tiberius sprechen, geht er alle in den Annalen berichteten, den Charakter des
Tiberius compromittircnden Fälle einzeln durch, bei jedem hinzufügend, es
werde wohl nicht so schlimm gewesen sein, die Opfer der Staatsprocesse wür¬
den ihr Loos wohl verdient haben, ohne doch bei der Beschaffenheit der Quel¬
len kaum jemals einen thatsächlichen Gegenbeweis beibringen zu können. Wir
bekennen offen, daß dieses Benörgeln. weit entfernt zu überzeugen, auf uns
einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat. In dem mit großem Geschick ge¬
schriebenen Buche Stahrs ist diese Klippe vermieden: derselbe beschränkt sich
streng auf das Amt des Biographen und geht in das Detail der Ereignisse
aus der Regierung des Tiberius nur insoweit ein, als es zum Verständnisse
des Entwickelungsgangs seines Helden nothwendig ist. Freilich sind damit die
Schwierigkeiten nur vertuscht, welche die ehrliche Gründlichkeit Herrn Siepers
offen hervortreten ließ. Gibt man aber die Prämisse, die Parteilichkeit des
Tacitus**) zu, so wird man die ftahrsche Charakterschilderung des Tiberius und
ganz besonders die des Sejanus als Meisterstücke feiner psychologischer Ent¬
wicklung annehmen müssen, und wir glauben gern, daß sich Leser, welche in
römischer Kaiscrgeschichte nicht schon sehr bewandert sind, der bestechenden Aus¬
fassung Stahrs ohne Weiteres gefangen geben werden.

Stahr sieht in Tiberius einen edlen, ideal angelegten Menschen, der sich




Die> schreibt zu spät, als daß er mit Tacitus zusammengestellt werden könnte.
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) Stahr trägt die Farben etwas stark auf; er redet einmal sogar von der raubergcschicht-
licheu Färbung eines Berichtes des Tacitus.
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[0020] Neue Bücher über römische Geschichte. Adolf Stahr, Tiberius. Berlin, Verlag von I. Guttcntag. 1863. (VIII und 332 S.) 8. Daß Tiberius ein ungewöhnlich begabter und tüchtiger Regent gewesen ist. wird jetzt ziemlich allgemein anerkannt, dagegen ist mit jeder Ehrenrettung des Tiberius als Menschen ein großer Uebelstand verbunden: sie wird noth¬ wendig zugleich eine Herabdrückung der Glaubwürdigkeit des Tacitus sein. Da nun Tacitus der Hauptzeuge und. insoweit es sich um politische Urteilsfähigkeit handelt, sogar der einzige den Namen eines Historikers verdienende Gewährs¬ mann über das Leben des Tiberius ist*), so wird der Beurtheilung, sobald ihm der Glaube versagt wird, der Boden unter den Füßen weggezogen, und die Phantasie hat den freiesten Spielraum. Am auffälligsten tritt dies durch die bedeutendste der bisherigen Rettungen des Tiberius, die von G. N. Siepers, hervor. Nachdem dieser im Allgemeinen die Gründe angeführt, welche für eine Voreingenommenheit des Tacitus gegen Tiberius sprechen, geht er alle in den Annalen berichteten, den Charakter des Tiberius compromittircnden Fälle einzeln durch, bei jedem hinzufügend, es werde wohl nicht so schlimm gewesen sein, die Opfer der Staatsprocesse wür¬ den ihr Loos wohl verdient haben, ohne doch bei der Beschaffenheit der Quel¬ len kaum jemals einen thatsächlichen Gegenbeweis beibringen zu können. Wir bekennen offen, daß dieses Benörgeln. weit entfernt zu überzeugen, auf uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat. In dem mit großem Geschick ge¬ schriebenen Buche Stahrs ist diese Klippe vermieden: derselbe beschränkt sich streng auf das Amt des Biographen und geht in das Detail der Ereignisse aus der Regierung des Tiberius nur insoweit ein, als es zum Verständnisse des Entwickelungsgangs seines Helden nothwendig ist. Freilich sind damit die Schwierigkeiten nur vertuscht, welche die ehrliche Gründlichkeit Herrn Siepers offen hervortreten ließ. Gibt man aber die Prämisse, die Parteilichkeit des Tacitus**) zu, so wird man die ftahrsche Charakterschilderung des Tiberius und ganz besonders die des Sejanus als Meisterstücke feiner psychologischer Ent¬ wicklung annehmen müssen, und wir glauben gern, daß sich Leser, welche in römischer Kaiscrgeschichte nicht schon sehr bewandert sind, der bestechenden Aus¬ fassung Stahrs ohne Weiteres gefangen geben werden. Stahr sieht in Tiberius einen edlen, ideal angelegten Menschen, der sich Die> schreibt zu spät, als daß er mit Tacitus zusammengestellt werden könnte. "*' ) Stahr trägt die Farben etwas stark auf; er redet einmal sogar von der raubergcschicht- licheu Färbung eines Berichtes des Tacitus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/20>, abgerufen am 15.01.2025.