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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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hohe Summen ersäuften sie sich hier und da Schutz, ober zu Ende des vier¬
zehnten Jahrhunderts wurden sie für immer aus ganz Mittelfrankreich verjagt.
Aehnlich erging es ihnen in England, wo sie im neunten Jahrhundert zuerst
auftreten und zu Ende des dreizehnten Vertriebe" werden. Im deutschen Reiche
waren sie als sogenannte Kammertnechte Leibeigene des Kaisers. Man findet
sie im achten Jahrhundert schon in verschiedenen Städten des Westens, im
zehnten in Sachsen und Böhmen, im elften in Schwaben, Franken und Oest¬
reich, im zwölften in der Mark Brandenburg und in Schlesien. Ihre Lage
war hier mit wenigen Ausnahmen eine sehr gedrückte. Man verlangte von
ihnen allerlei Steuern, verpfändete, verschenkte und vertrieb sie. Mehrmals
in jedem Jahrhundert vom zwölften bis zum fünfzehnten erhob sich das Volk
im Aufstand gegen sie, und wiederholt wurden sie bei solchen Vorfällen in ein¬
zelnen Gegenden völlig ausgerottet. Dennoch mehrten sie sich wieder, wenn
auch nicht so wie in Polen, wo man die vor der Verfolgung in Deutschland
Geflohenen bereitwillig ausnahm und ihnen sogar gewisse Vorrechte gewährte,
oder wie in Ungarn, wo seit dem elften Jahrhundert Juden vorkommen.

Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts gab es in Westeuropa nur noch
sehr wenige Juden. Humanere Grundsähe, die später zur Herrschaft gelangten,
gestatteten ihnen allmälig in Deutschland. England und Frankreich wieder
Niederlassung und Gedeihen, und mit der beginnenden Auswanderung nach der
neuen Welt entstanden jüdische Gemeinden auch in Nordamerika, dann in
Australien.

Gegenwärtig dürfte sich die Gesammtzahl der Juden auf etwas über vier
Millionen belaufen. Wollte man sich ihre Vertheilung über Europa bildlich
verdeutlichen, etwa durch Schattirungen von Noth auf einer Karte, wo die
stärkste Dichtheit durch den tiefsten Ton der Farbe des betreffenden Landes an¬
gegeben wäre, so würde dieser letzte dem ehemaligen Polen und zwar den süd¬
östlichen Theilen desselben und den Ländern der untern Donau zukommen.
Beträchtlich blässer würde Deutschland und Holland erscheinen, noch schwächer
gefärbt Rußland, das Binnenland Rumeliens, England. Frankreich und Italien,
"och matter Skandinavien, endlich fast farblos Spanien und Portugal. Im
russischen Polen allein wohnen 1.100,000 Juden, also mehr als ein Viertel
der Gesammtzahl, im Königreich circa 400,000. in Galizien 200.000. in Posen
nahe an 80.000. Auf Deutschland kommen etwa 330,000, von denen sich
Verhältnißmäßig die meisten auf Würtemberg, Baden, die beiden Hessen, Han¬
nover und die freien Städte Hamburg und Frankfurt, die wenigsten auf das
Königreich Sachsen vertheilen, wo sie bis vor einigen Jahrzehnten nur in
Leipzig und Dresden geduldet wurden. In Preußen zählt man circa 140,000,
in Deutsch-Oestreich 90,000, in Bayern etwa 60.000 Juden. Auf das russische
Reich mit Ausnahme der ehemals polnischen Provinzen werden 60.000, auf


hohe Summen ersäuften sie sich hier und da Schutz, ober zu Ende des vier¬
zehnten Jahrhunderts wurden sie für immer aus ganz Mittelfrankreich verjagt.
Aehnlich erging es ihnen in England, wo sie im neunten Jahrhundert zuerst
auftreten und zu Ende des dreizehnten Vertriebe» werden. Im deutschen Reiche
waren sie als sogenannte Kammertnechte Leibeigene des Kaisers. Man findet
sie im achten Jahrhundert schon in verschiedenen Städten des Westens, im
zehnten in Sachsen und Böhmen, im elften in Schwaben, Franken und Oest¬
reich, im zwölften in der Mark Brandenburg und in Schlesien. Ihre Lage
war hier mit wenigen Ausnahmen eine sehr gedrückte. Man verlangte von
ihnen allerlei Steuern, verpfändete, verschenkte und vertrieb sie. Mehrmals
in jedem Jahrhundert vom zwölften bis zum fünfzehnten erhob sich das Volk
im Aufstand gegen sie, und wiederholt wurden sie bei solchen Vorfällen in ein¬
zelnen Gegenden völlig ausgerottet. Dennoch mehrten sie sich wieder, wenn
auch nicht so wie in Polen, wo man die vor der Verfolgung in Deutschland
Geflohenen bereitwillig ausnahm und ihnen sogar gewisse Vorrechte gewährte,
oder wie in Ungarn, wo seit dem elften Jahrhundert Juden vorkommen.

Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts gab es in Westeuropa nur noch
sehr wenige Juden. Humanere Grundsähe, die später zur Herrschaft gelangten,
gestatteten ihnen allmälig in Deutschland. England und Frankreich wieder
Niederlassung und Gedeihen, und mit der beginnenden Auswanderung nach der
neuen Welt entstanden jüdische Gemeinden auch in Nordamerika, dann in
Australien.

Gegenwärtig dürfte sich die Gesammtzahl der Juden auf etwas über vier
Millionen belaufen. Wollte man sich ihre Vertheilung über Europa bildlich
verdeutlichen, etwa durch Schattirungen von Noth auf einer Karte, wo die
stärkste Dichtheit durch den tiefsten Ton der Farbe des betreffenden Landes an¬
gegeben wäre, so würde dieser letzte dem ehemaligen Polen und zwar den süd¬
östlichen Theilen desselben und den Ländern der untern Donau zukommen.
Beträchtlich blässer würde Deutschland und Holland erscheinen, noch schwächer
gefärbt Rußland, das Binnenland Rumeliens, England. Frankreich und Italien,
"och matter Skandinavien, endlich fast farblos Spanien und Portugal. Im
russischen Polen allein wohnen 1.100,000 Juden, also mehr als ein Viertel
der Gesammtzahl, im Königreich circa 400,000. in Galizien 200.000. in Posen
nahe an 80.000. Auf Deutschland kommen etwa 330,000, von denen sich
Verhältnißmäßig die meisten auf Würtemberg, Baden, die beiden Hessen, Han¬
nover und die freien Städte Hamburg und Frankfurt, die wenigsten auf das
Königreich Sachsen vertheilen, wo sie bis vor einigen Jahrzehnten nur in
Leipzig und Dresden geduldet wurden. In Preußen zählt man circa 140,000,
in Deutsch-Oestreich 90,000, in Bayern etwa 60.000 Juden. Auf das russische
Reich mit Ausnahme der ehemals polnischen Provinzen werden 60.000, auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/71>, abgerufen am 01.09.2024.