Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.der Dichter einmal seine subjective Weise abzulegen und etwas Anderes zu Allein solche Bedenken des heutigen Lesers hätten die Zeitgenossen kaum So hatten die Zeitgenossen kein Auge für die Schwächen von Byrons der Dichter einmal seine subjective Weise abzulegen und etwas Anderes zu Allein solche Bedenken des heutigen Lesers hätten die Zeitgenossen kaum So hatten die Zeitgenossen kein Auge für die Schwächen von Byrons <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0061" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115455"/> <p xml:id="ID_167" prev="#ID_166"> der Dichter einmal seine subjective Weise abzulegen und etwas Anderes zu<lb/> schaffen als Monologe und Schilderungen: seinem unsteten Schaffen blieb doch<lb/> fremd jener höchste Künstlcrfleiß, der entsagend sich gänzlich in den Stoff ver¬<lb/> senkt und allein dramatische Charaktere von überzeugender Kraft zu schaffen<lb/> vermag.</p><lb/> <p xml:id="ID_168"> Allein solche Bedenken des heutigen Lesers hätten die Zeitgenossen kaum<lb/> verstanden. Der Erbe der Romantik fand Byron die Bühnen längst verwildert<lb/> und die Welt gewöhnt den Empsindungsreichthum eines Lesedramas für eine<lb/> dramatische Handlung zu nehmen. Die wuchernde Ueberfülle seiner Abschwei¬<lb/> fungen und Schilderungen, wie ganz entsprach sie doch der Neigung einer Zeit,<lb/> die alle alten Kunstformen durch die Romantiker zerbrochen sah und in einem<lb/> blendenden, abspringenden poetischen Feuilletonstile das Neueste und Größte<lb/> der Dichtkunst fand. Vergessen wir nicht, daß die von Byron hervorgerufene<lb/> jungdeutsche, und neufranzösische Richtung die ärgsten ihrer Sünden von der<lb/> Romantik entlehnt bat. Wie unsicher bleibt doch die Grenze zwischen den bei¬<lb/> den Schulen; für Frankreich, das einen echten Klassicismus, nach deutscher<lb/> Weise, nie gekannt hat, liegt sogar in Victor Hugos kecker Versicherung eine<lb/> gewisse Wcchrbeit: „Die Romantik ist in der Dichtung, was der Liberalismus<lb/> im Staate." — Auch für die von Byron beliebte Vermischung der Kunst mit<lb/> politischen Tendenzen hatte die Romantik arglos selbst den Boden geebnet.<lb/> Sie hatte die Grenzen zerstört, welche Dichtung und Prosa scheiden, und der<lb/> Welt eine poetische Religion, eine poetische Politik geschenkt. War es zu ver¬<lb/> wundern, wenn jetzt ein verwegener Mann den Spieß umkehrte, wenn mit<lb/> Byron eine Zeit begann, welche Kunst und Wissenschaft nur als die Mägde<lb/> der Politik behandelte? Endlich jene edelmüthigen byronschen Verbrecher, die<lb/> unser sittliches Gefühl beleidigen, sie gaben einer Epoche keinen Anstoß, die<lb/> längst von der Romantik gelernt die interessanten Menschen nur auf den Höhen<lb/> und in den Tiefen der Gesellschaft zu suchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_169" next="#ID_170"> So hatten die Zeitgenossen kein Auge für die Schwächen von Byrons<lb/> Muse. Um so freudiger begrüßten sie ihre Tugenden, jene wunderbare, in<lb/> keiner Uebertragung völlig getroffene Formenschönheit, die einfältige Kraft und<lb/> Wahrheit des edlen Ausdrucks, der mit den allereinfachsten Mitteln am ge¬<lb/> waltigsten wirkt. Jene mit dem Herzblute des Dichters geschriebenen Verse<lb/> „der Traum" muthen uns an wie eine Erzählung aus einer Welt der Wun¬<lb/> der, und doch was schildern sie? die einfachste Begebenheit mit den schlich¬<lb/> testen Worten. Und wie herrlich sah doch aus aller Zerrissenheit des Dichters<lb/> sein kerngesunder, nie beirrter Instinkt für echte Größe hervor. Wie hehr<lb/> mußte der Jugend die Reinheit eines Sokrates. Franklin, Washington erschei¬<lb/> nen, wenn Byron, der immer Spottende, vor ihnen demuthsvoll sich neigte.<lb/> Und wie ungezogen oft sein Witz sich gehen ließ, er blieb doch ein Dichter/ der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0061]
der Dichter einmal seine subjective Weise abzulegen und etwas Anderes zu
schaffen als Monologe und Schilderungen: seinem unsteten Schaffen blieb doch
fremd jener höchste Künstlcrfleiß, der entsagend sich gänzlich in den Stoff ver¬
senkt und allein dramatische Charaktere von überzeugender Kraft zu schaffen
vermag.
Allein solche Bedenken des heutigen Lesers hätten die Zeitgenossen kaum
verstanden. Der Erbe der Romantik fand Byron die Bühnen längst verwildert
und die Welt gewöhnt den Empsindungsreichthum eines Lesedramas für eine
dramatische Handlung zu nehmen. Die wuchernde Ueberfülle seiner Abschwei¬
fungen und Schilderungen, wie ganz entsprach sie doch der Neigung einer Zeit,
die alle alten Kunstformen durch die Romantiker zerbrochen sah und in einem
blendenden, abspringenden poetischen Feuilletonstile das Neueste und Größte
der Dichtkunst fand. Vergessen wir nicht, daß die von Byron hervorgerufene
jungdeutsche, und neufranzösische Richtung die ärgsten ihrer Sünden von der
Romantik entlehnt bat. Wie unsicher bleibt doch die Grenze zwischen den bei¬
den Schulen; für Frankreich, das einen echten Klassicismus, nach deutscher
Weise, nie gekannt hat, liegt sogar in Victor Hugos kecker Versicherung eine
gewisse Wcchrbeit: „Die Romantik ist in der Dichtung, was der Liberalismus
im Staate." — Auch für die von Byron beliebte Vermischung der Kunst mit
politischen Tendenzen hatte die Romantik arglos selbst den Boden geebnet.
Sie hatte die Grenzen zerstört, welche Dichtung und Prosa scheiden, und der
Welt eine poetische Religion, eine poetische Politik geschenkt. War es zu ver¬
wundern, wenn jetzt ein verwegener Mann den Spieß umkehrte, wenn mit
Byron eine Zeit begann, welche Kunst und Wissenschaft nur als die Mägde
der Politik behandelte? Endlich jene edelmüthigen byronschen Verbrecher, die
unser sittliches Gefühl beleidigen, sie gaben einer Epoche keinen Anstoß, die
längst von der Romantik gelernt die interessanten Menschen nur auf den Höhen
und in den Tiefen der Gesellschaft zu suchen.
So hatten die Zeitgenossen kein Auge für die Schwächen von Byrons
Muse. Um so freudiger begrüßten sie ihre Tugenden, jene wunderbare, in
keiner Uebertragung völlig getroffene Formenschönheit, die einfältige Kraft und
Wahrheit des edlen Ausdrucks, der mit den allereinfachsten Mitteln am ge¬
waltigsten wirkt. Jene mit dem Herzblute des Dichters geschriebenen Verse
„der Traum" muthen uns an wie eine Erzählung aus einer Welt der Wun¬
der, und doch was schildern sie? die einfachste Begebenheit mit den schlich¬
testen Worten. Und wie herrlich sah doch aus aller Zerrissenheit des Dichters
sein kerngesunder, nie beirrter Instinkt für echte Größe hervor. Wie hehr
mußte der Jugend die Reinheit eines Sokrates. Franklin, Washington erschei¬
nen, wenn Byron, der immer Spottende, vor ihnen demuthsvoll sich neigte.
Und wie ungezogen oft sein Witz sich gehen ließ, er blieb doch ein Dichter/ der
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