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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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kam das ancillonsche Manifest zur Sprache. Es erfuhr von verschiedenen Sei¬
ten Widerspruch, keine Stimme wollte sich erheben, um dem zwar würdevoll
gehaltenen, aber zu gründlich und zu wenig volksthümlich abgefaßten Aufsatz
Beifall zu spenden. Man war in Verlegenheit, da man dem berühmten Verfasser
sein Manuscript nicht gern zurückgeben wollte, es nicht sofort durch eine andere
Arbeit ersetzen konnte und andrerseits doch willens war, ohne Verzug mit einem
Preußens Lage und seiner Kraftentwickelung entsprechenden Geistcswerke vor¬
zugehen.

Da machte Hippel den Vorschlag, "daß Preußen nach allen der Welt be¬
kannten Vorgängen sich in so augenscheinlichem Rechte befinde, daß eine öffent¬
liche Anrede an das Volk genügen werde und die besten Wirkungen haben
müsse."

Gneisenau war der Erste, welcher diesen Gedanken adoptirte. Er vertrat
ihn so warm, daß endlich auch die Uebrigen zustimmten. Hippel erhielt, nach¬
dem sich auch der König einverstanden erklärt, Auftrag von Hardenberg, den
Ausruf zu entwerfen, und schon am nächsten Tage unterbreitete er dem Staats¬
kanzler folgenden, wörtlich nach dem Manuscripte in unsrer Schrift wieder¬
gegebenen Entwurf:

"Für mein treues Volk und für Deutsche bedarf es keiner Rechenschaft über
die Ursachen des gegenwärtigen Krieges. Sie liegen klar vor den Augen des
unverblendeten Europa.

Vor beinahe sieben Jahren erlagen wir unter der Uebermacht von Frank¬
reich. Der Frieden, der die Hälfte meiner Unterthanen von mir riß, gab uns
seine Segnungen nicht; denn er schlug uns tiefere Wunden, als der Krieg
selbst. Das Mark des Landes ward ausgesogen, die Hauptfestungen blieben
vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt und siel, sowie alle Anstren¬
gungen unseres früheren sonst gerühmten Kunstfleißes der Städte, der Ver¬
armung zum Raube.

Durch die gewissenhafteste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte
ich meinem Volke Erleichterung zu bereiten und den französischen Kaiser endlich
zu überzeugen, daß es sein eigener Vortheil sei, Preußen seine Unabhängigkeit
zu lassen oder wiederzugeben. Allein Uebermuth und Treulosigkeit vereitel¬
ten meine treuen Absichten, und wir sahen zu deutlich, daß seine Verträge mehr
noch wie seine Kriege nur dahin gerichtet waren, uns langsam, aber desto ge¬
wisser zu verderben.

Der Augenblick ist gekommen, der alle Täuschung über unsern Zustand
aufhebt. Brandenburger. Preußen, Lithauer, Pommern, Schlesier! Ihr wißt,
was ihr seit sieben Jahren erduldet habt, ihr wißt, was euer trauriges Loos
ist, wenn wir den Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an die Vorzeit
des großen Kurfürsten, des großen Friedrich. Bleibt eingedenk der Güter, die


kam das ancillonsche Manifest zur Sprache. Es erfuhr von verschiedenen Sei¬
ten Widerspruch, keine Stimme wollte sich erheben, um dem zwar würdevoll
gehaltenen, aber zu gründlich und zu wenig volksthümlich abgefaßten Aufsatz
Beifall zu spenden. Man war in Verlegenheit, da man dem berühmten Verfasser
sein Manuscript nicht gern zurückgeben wollte, es nicht sofort durch eine andere
Arbeit ersetzen konnte und andrerseits doch willens war, ohne Verzug mit einem
Preußens Lage und seiner Kraftentwickelung entsprechenden Geistcswerke vor¬
zugehen.

Da machte Hippel den Vorschlag, „daß Preußen nach allen der Welt be¬
kannten Vorgängen sich in so augenscheinlichem Rechte befinde, daß eine öffent¬
liche Anrede an das Volk genügen werde und die besten Wirkungen haben
müsse."

Gneisenau war der Erste, welcher diesen Gedanken adoptirte. Er vertrat
ihn so warm, daß endlich auch die Uebrigen zustimmten. Hippel erhielt, nach¬
dem sich auch der König einverstanden erklärt, Auftrag von Hardenberg, den
Ausruf zu entwerfen, und schon am nächsten Tage unterbreitete er dem Staats¬
kanzler folgenden, wörtlich nach dem Manuscripte in unsrer Schrift wieder¬
gegebenen Entwurf:

„Für mein treues Volk und für Deutsche bedarf es keiner Rechenschaft über
die Ursachen des gegenwärtigen Krieges. Sie liegen klar vor den Augen des
unverblendeten Europa.

Vor beinahe sieben Jahren erlagen wir unter der Uebermacht von Frank¬
reich. Der Frieden, der die Hälfte meiner Unterthanen von mir riß, gab uns
seine Segnungen nicht; denn er schlug uns tiefere Wunden, als der Krieg
selbst. Das Mark des Landes ward ausgesogen, die Hauptfestungen blieben
vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt und siel, sowie alle Anstren¬
gungen unseres früheren sonst gerühmten Kunstfleißes der Städte, der Ver¬
armung zum Raube.

Durch die gewissenhafteste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte
ich meinem Volke Erleichterung zu bereiten und den französischen Kaiser endlich
zu überzeugen, daß es sein eigener Vortheil sei, Preußen seine Unabhängigkeit
zu lassen oder wiederzugeben. Allein Uebermuth und Treulosigkeit vereitel¬
ten meine treuen Absichten, und wir sahen zu deutlich, daß seine Verträge mehr
noch wie seine Kriege nur dahin gerichtet waren, uns langsam, aber desto ge¬
wisser zu verderben.

Der Augenblick ist gekommen, der alle Täuschung über unsern Zustand
aufhebt. Brandenburger. Preußen, Lithauer, Pommern, Schlesier! Ihr wißt,
was ihr seit sieben Jahren erduldet habt, ihr wißt, was euer trauriges Loos
ist, wenn wir den Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an die Vorzeit
des großen Kurfürsten, des großen Friedrich. Bleibt eingedenk der Güter, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/500>, abgerufen am 28.07.2024.