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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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den Koran her, sprechen dreimal das erste, dann das 112. Capitel, endlich den
59. Vers der Surat El Auern (des 6. Capitels): "Bei ihm sind die Schlüssel
des Verborgenen. Niemand kennt sie als er, und er weiß, was auf dem Lande
und im Meer ist," öffnen dann das Buch aufs Gerathewohl und ziehen aus
der siebenten Zeile der rechten. Seite die Antwort. Oft enthalten die Worte
natürlich keine directe Antwort, sie werden indeß bejahend oder verneinend ge¬
nommen, je nachdem ihr allgemeiner Inhalt etwas Gutes oder etwas Schlim¬
mes betrifft, Segen verheißt, oder Strafe androht. Andere halten sich nicht
an die siebente Zeile, sondern zählen nach, wie oft die Buchstaben Cha und
Schim auf der ganzen Seite vorkommen, und wenn ersterer sich häusiger findet,
so ist die Entscheidung günstig, weil Cha das Wort chejr, d. i. gut bedeutet,
während Schim das Wort Scharr, d. i. böse vorstellt.

Ganz übereinstimmend halten Morgenland und Abendland das Blut oder
sonstige Neste von Hingerichteten für heilsam oder glückbringend. So hän¬
gen sich moslemische Frauen Finger von Hingerichteten Christen oder Juden an
den Hals, weil das gegen das Wechselfieber schützt, und so verschaffen Diebes¬
daumen in manchen Gegenden Deutschlands noch heute dem Kaufmann, der
sie neben seine Waare legt, viele Kunden und guten Verkauf. So ist in Fran¬
ken noch jetzt in den Apotheken Armcnsünderfett ein oft begehrter Artikel. So
gilt Blut von Enthaupteten noch überall in Deutschland, in Ostfriesland wie
in Schlesien, als die beste Arzenei gegen Epilepsie, und so wird es auch im
Orient vielfach als Heil- und Zaubermittel angewendet. Frauen, die sich Nach¬
kommenschaft wünschen, schreiten, ohne zu sprechen, siebenmal über den Körper
eines Enthaupteten. Andere tauchen zu demselben Zweck schweigend ein Stück
Baumwolle in das Blut und wenden dies dann in einer hier nicht zu beschreiben¬
den Weise an. Wieder andere, die an Ophthalmie leiden, bisweilen auch Männer,
gehen in Kairo nach dem Hause am Numilijeh-Platz, wo die Hingerichteten
vor ihrer Beerdigung gewaschen werden, treten auf die Steinplatte, auf welcher
dies geschieht, und waschen sich dann in dem darunter befindlichen Troge, in
welchen das blutige Wasser von den Leichen abgelaufen ist. Wie alt dieser
Aberglaube hier ist und wie mächtig er auf das Gemüth wirkt, bedarf keines
Beweises, wenn man sich erinnert, daß die Moslemin in der Regel mit der
äußersten Sorgfalt darauf bedacht sind, den Geboten ihrer Religion nachzukommen,
und daß diese Alles, was irgend verunreinigen kann, von sich fern zu halten ge¬
bietet. Scenen freilich, wie sie früher bei öffentlichen Executionen in Deutsch¬
land vorkamen, wo es fast regelmäßig zum Handgemenge zwischen der die Richt¬
stätte umschließenden bewaffneten Macht und den gierig sich herzudrängenden Wei¬
bern kam. welche um jeden Preis etwas von dem Blute des armen Sünders
haben wollten, sind im Orient, so wenig empfehlenswerth sonst dessen Sitten
sein mögen, unerhört.


den Koran her, sprechen dreimal das erste, dann das 112. Capitel, endlich den
59. Vers der Surat El Auern (des 6. Capitels): „Bei ihm sind die Schlüssel
des Verborgenen. Niemand kennt sie als er, und er weiß, was auf dem Lande
und im Meer ist," öffnen dann das Buch aufs Gerathewohl und ziehen aus
der siebenten Zeile der rechten. Seite die Antwort. Oft enthalten die Worte
natürlich keine directe Antwort, sie werden indeß bejahend oder verneinend ge¬
nommen, je nachdem ihr allgemeiner Inhalt etwas Gutes oder etwas Schlim¬
mes betrifft, Segen verheißt, oder Strafe androht. Andere halten sich nicht
an die siebente Zeile, sondern zählen nach, wie oft die Buchstaben Cha und
Schim auf der ganzen Seite vorkommen, und wenn ersterer sich häusiger findet,
so ist die Entscheidung günstig, weil Cha das Wort chejr, d. i. gut bedeutet,
während Schim das Wort Scharr, d. i. böse vorstellt.

Ganz übereinstimmend halten Morgenland und Abendland das Blut oder
sonstige Neste von Hingerichteten für heilsam oder glückbringend. So hän¬
gen sich moslemische Frauen Finger von Hingerichteten Christen oder Juden an
den Hals, weil das gegen das Wechselfieber schützt, und so verschaffen Diebes¬
daumen in manchen Gegenden Deutschlands noch heute dem Kaufmann, der
sie neben seine Waare legt, viele Kunden und guten Verkauf. So ist in Fran¬
ken noch jetzt in den Apotheken Armcnsünderfett ein oft begehrter Artikel. So
gilt Blut von Enthaupteten noch überall in Deutschland, in Ostfriesland wie
in Schlesien, als die beste Arzenei gegen Epilepsie, und so wird es auch im
Orient vielfach als Heil- und Zaubermittel angewendet. Frauen, die sich Nach¬
kommenschaft wünschen, schreiten, ohne zu sprechen, siebenmal über den Körper
eines Enthaupteten. Andere tauchen zu demselben Zweck schweigend ein Stück
Baumwolle in das Blut und wenden dies dann in einer hier nicht zu beschreiben¬
den Weise an. Wieder andere, die an Ophthalmie leiden, bisweilen auch Männer,
gehen in Kairo nach dem Hause am Numilijeh-Platz, wo die Hingerichteten
vor ihrer Beerdigung gewaschen werden, treten auf die Steinplatte, auf welcher
dies geschieht, und waschen sich dann in dem darunter befindlichen Troge, in
welchen das blutige Wasser von den Leichen abgelaufen ist. Wie alt dieser
Aberglaube hier ist und wie mächtig er auf das Gemüth wirkt, bedarf keines
Beweises, wenn man sich erinnert, daß die Moslemin in der Regel mit der
äußersten Sorgfalt darauf bedacht sind, den Geboten ihrer Religion nachzukommen,
und daß diese Alles, was irgend verunreinigen kann, von sich fern zu halten ge¬
bietet. Scenen freilich, wie sie früher bei öffentlichen Executionen in Deutsch¬
land vorkamen, wo es fast regelmäßig zum Handgemenge zwischen der die Richt¬
stätte umschließenden bewaffneten Macht und den gierig sich herzudrängenden Wei¬
bern kam. welche um jeden Preis etwas von dem Blute des armen Sünders
haben wollten, sind im Orient, so wenig empfehlenswerth sonst dessen Sitten
sein mögen, unerhört.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/440>, abgerufen am 23.12.2024.