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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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raschcnd ist die von Lapinski neuerdings veröffentlichte Erzählung der Adighe
von dem Urgreis, der auf dem Gipfel des Elbrus angefesselt ist. und indem
wir sogleich Züge von Prometheus und daneben von jenem bergentrückten Hel¬
den erblicken, der unter verschiedenen Namen, als Friedrich Rothbart, als Karl
der Große, als Holger Danske u. s. w. in deutschen und skandinavischen My¬
then lebt. Schwer erklärbar endlich, um Andres der Art zu übergehen , ist die
Uebereinstimmung von zwei Sagen, die Burton aus dem Lande der Somali
mitgebracht hat, mit nordischen Erzählungen.

Unter den Somali gibt es Schlangen mit zwei Auswüchsen an den Kö¬
pfen, die wie Hörner .aussehen. Das eine Horn enthält nach dem Volksglauben
ein starkes Gift, das andere aber macht, zermalmt und über das Auge ge¬
strichen, den Menschen so scharfsichtig, daß er alle Schätze der Erde finden
kann. Ferner existirt hier "eine fliegende Schlange, die Edelsteine sammelt und
hundert andre Schlangen als Diener um sich hat." "Als einst ein Somali¬
reiter ihr ein Juwel geraubt hatte, wurde er von einem Schlangenheer ver¬
folgt; zwar entkam er. aber sein Stamm zwang ihn, das Kleinod zurückzu¬
geben."

Mögen wir uns täuschen, wenn uns das scharfsichtig machende Schlangen¬
horn wie ein leiser Anklang an die scharfhörig machenden Schlangenzungen in
der Teiresiassoge und an das gleichartig wirkende Drachenherz vorkommt, nach
dessen Genuß Negin die Sprache der Vögel verstand, die fliegende Schlange
und der Raub ihres Kleinods durch einen Reiter ist ganz entschieden der Kern
eines wohlbekannten deutschen Kindermärchens.

Noch interessanter ist die von demselben Reisenden mitgetheilte Sage, die
sich an einen seltsam gestalteten Felsen im Innern des Somalilandes knüpft.
Dort oben wohnte in alten Zeiten mit ihrem Vater in einer Burg, von der
man noch Spuren sehen soll, ein Gallamädchen, Namens Mvga. "Das Auge
dieser Jungfrau war so scharf, daß es Feinde schon in der Entfernung von
fünf Tagereisen erkannte. Die Gegner ihres Stammes erlitten durch solche
Wachsamkeit großen Schaden, nahmen aber dann ihre Zuflucht zu einer List.
Sie rückten unbekleidet heran und versteckten ihre Köpfe unter dicken Gras¬
bündeln. Jungfrau Moga rief jetzt ihrem Vater zu, daß die Wiese den Berg
heraufkomme, und damit sagte sie die Wahrheit, allein man glaubte ihr nicht,
sondern hielt sie für wahnsinnig. Die Kriegslist gelang vollkommen, und die
arme Seherin verlor ihr Leben."

Die Somali sind ein wilder Stamm in Südost-Habesch. der zu den rohe-
sten der semitischen Völkerfamilie gehört und sehr wenig von dem. was außer
seinem Gebiet existirt, nichts aber von Verkehr mit gesitteten Völkern weiß,
ein Stamm, der nach Burton, um symbolisch Glück auf die Reise zu wünschen,
die Betreffenden anspeit, der nach demselben zuverlässigen Gewährsmann --


raschcnd ist die von Lapinski neuerdings veröffentlichte Erzählung der Adighe
von dem Urgreis, der auf dem Gipfel des Elbrus angefesselt ist. und indem
wir sogleich Züge von Prometheus und daneben von jenem bergentrückten Hel¬
den erblicken, der unter verschiedenen Namen, als Friedrich Rothbart, als Karl
der Große, als Holger Danske u. s. w. in deutschen und skandinavischen My¬
then lebt. Schwer erklärbar endlich, um Andres der Art zu übergehen , ist die
Uebereinstimmung von zwei Sagen, die Burton aus dem Lande der Somali
mitgebracht hat, mit nordischen Erzählungen.

Unter den Somali gibt es Schlangen mit zwei Auswüchsen an den Kö¬
pfen, die wie Hörner .aussehen. Das eine Horn enthält nach dem Volksglauben
ein starkes Gift, das andere aber macht, zermalmt und über das Auge ge¬
strichen, den Menschen so scharfsichtig, daß er alle Schätze der Erde finden
kann. Ferner existirt hier „eine fliegende Schlange, die Edelsteine sammelt und
hundert andre Schlangen als Diener um sich hat." „Als einst ein Somali¬
reiter ihr ein Juwel geraubt hatte, wurde er von einem Schlangenheer ver¬
folgt; zwar entkam er. aber sein Stamm zwang ihn, das Kleinod zurückzu¬
geben."

Mögen wir uns täuschen, wenn uns das scharfsichtig machende Schlangen¬
horn wie ein leiser Anklang an die scharfhörig machenden Schlangenzungen in
der Teiresiassoge und an das gleichartig wirkende Drachenherz vorkommt, nach
dessen Genuß Negin die Sprache der Vögel verstand, die fliegende Schlange
und der Raub ihres Kleinods durch einen Reiter ist ganz entschieden der Kern
eines wohlbekannten deutschen Kindermärchens.

Noch interessanter ist die von demselben Reisenden mitgetheilte Sage, die
sich an einen seltsam gestalteten Felsen im Innern des Somalilandes knüpft.
Dort oben wohnte in alten Zeiten mit ihrem Vater in einer Burg, von der
man noch Spuren sehen soll, ein Gallamädchen, Namens Mvga. „Das Auge
dieser Jungfrau war so scharf, daß es Feinde schon in der Entfernung von
fünf Tagereisen erkannte. Die Gegner ihres Stammes erlitten durch solche
Wachsamkeit großen Schaden, nahmen aber dann ihre Zuflucht zu einer List.
Sie rückten unbekleidet heran und versteckten ihre Köpfe unter dicken Gras¬
bündeln. Jungfrau Moga rief jetzt ihrem Vater zu, daß die Wiese den Berg
heraufkomme, und damit sagte sie die Wahrheit, allein man glaubte ihr nicht,
sondern hielt sie für wahnsinnig. Die Kriegslist gelang vollkommen, und die
arme Seherin verlor ihr Leben."

Die Somali sind ein wilder Stamm in Südost-Habesch. der zu den rohe-
sten der semitischen Völkerfamilie gehört und sehr wenig von dem. was außer
seinem Gebiet existirt, nichts aber von Verkehr mit gesitteten Völkern weiß,
ein Stamm, der nach Burton, um symbolisch Glück auf die Reise zu wünschen,
die Betreffenden anspeit, der nach demselben zuverlässigen Gewährsmann —


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[0434] raschcnd ist die von Lapinski neuerdings veröffentlichte Erzählung der Adighe von dem Urgreis, der auf dem Gipfel des Elbrus angefesselt ist. und indem wir sogleich Züge von Prometheus und daneben von jenem bergentrückten Hel¬ den erblicken, der unter verschiedenen Namen, als Friedrich Rothbart, als Karl der Große, als Holger Danske u. s. w. in deutschen und skandinavischen My¬ then lebt. Schwer erklärbar endlich, um Andres der Art zu übergehen , ist die Uebereinstimmung von zwei Sagen, die Burton aus dem Lande der Somali mitgebracht hat, mit nordischen Erzählungen. Unter den Somali gibt es Schlangen mit zwei Auswüchsen an den Kö¬ pfen, die wie Hörner .aussehen. Das eine Horn enthält nach dem Volksglauben ein starkes Gift, das andere aber macht, zermalmt und über das Auge ge¬ strichen, den Menschen so scharfsichtig, daß er alle Schätze der Erde finden kann. Ferner existirt hier „eine fliegende Schlange, die Edelsteine sammelt und hundert andre Schlangen als Diener um sich hat." „Als einst ein Somali¬ reiter ihr ein Juwel geraubt hatte, wurde er von einem Schlangenheer ver¬ folgt; zwar entkam er. aber sein Stamm zwang ihn, das Kleinod zurückzu¬ geben." Mögen wir uns täuschen, wenn uns das scharfsichtig machende Schlangen¬ horn wie ein leiser Anklang an die scharfhörig machenden Schlangenzungen in der Teiresiassoge und an das gleichartig wirkende Drachenherz vorkommt, nach dessen Genuß Negin die Sprache der Vögel verstand, die fliegende Schlange und der Raub ihres Kleinods durch einen Reiter ist ganz entschieden der Kern eines wohlbekannten deutschen Kindermärchens. Noch interessanter ist die von demselben Reisenden mitgetheilte Sage, die sich an einen seltsam gestalteten Felsen im Innern des Somalilandes knüpft. Dort oben wohnte in alten Zeiten mit ihrem Vater in einer Burg, von der man noch Spuren sehen soll, ein Gallamädchen, Namens Mvga. „Das Auge dieser Jungfrau war so scharf, daß es Feinde schon in der Entfernung von fünf Tagereisen erkannte. Die Gegner ihres Stammes erlitten durch solche Wachsamkeit großen Schaden, nahmen aber dann ihre Zuflucht zu einer List. Sie rückten unbekleidet heran und versteckten ihre Köpfe unter dicken Gras¬ bündeln. Jungfrau Moga rief jetzt ihrem Vater zu, daß die Wiese den Berg heraufkomme, und damit sagte sie die Wahrheit, allein man glaubte ihr nicht, sondern hielt sie für wahnsinnig. Die Kriegslist gelang vollkommen, und die arme Seherin verlor ihr Leben." Die Somali sind ein wilder Stamm in Südost-Habesch. der zu den rohe- sten der semitischen Völkerfamilie gehört und sehr wenig von dem. was außer seinem Gebiet existirt, nichts aber von Verkehr mit gesitteten Völkern weiß, ein Stamm, der nach Burton, um symbolisch Glück auf die Reise zu wünschen, die Betreffenden anspeit, der nach demselben zuverlässigen Gewährsmann —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/434>, abgerufen am 23.12.2024.