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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Gott Wohlgefällige darin zu thun lehrte keine Religion von Haus aus so er¬
greifend wie die dieses Volkes; aber die Pharisäer machten aus den guten
Werken ein Schaugepränge, Vorzüglich suchten sie aus den Buchstaben des
heiligen Gesetzes gewisse äußere Kennzeichen eines an die Beobachtung des gan¬
zen Gesetzes gebundenen echten Frommen hervor und legten darauf großes Ge¬
wicht: die heilige Quaste am Kleide, obwohl diese jetzt wahrscheinlich längst
nicht mehr Sitte war; die Anheftung kleiner mit Worten aus dem Gesetz be¬
schriebener Rollen (der Phylakterien) an den Arm und Hals, die sie blos aus ei¬
ner zu ängstlichen Erklärung einiger Gesctzesworte zogen. Dazu die größte Strenge
in den übrigen, theils vorgeschriebenen, theils freiwilligen heiligen Bräuchen,
den Waschungen aller Art, den Fasten u. s. w." "In Ansehung des Stoffes
ihrer Lehren gingen sie eigentlich ganz von der großen geraden Entwickelung
aus, welche das strenge Judäerthum seit den Tagen Esras bis jetzt durchlaufen
hatte, setzten das Gesetz über Alles, ohne deshalb die andern aus dem Alter¬
thum ererbten Urkunden, Ueberlieferungen und Gebräuche der Religion zu verwer¬
fen, billigten die herkömmliche Schrifterklärung, ohne das Uebermaß im Andenken
(Allegonsiren) gutzuheißen, welches damals herrschend werden wollte, und hielten
sich übrigens gern etwas enge an das Volkstümliche und Hergebrachte sowie an
gute Lebensstilen, Ehre des Alters u. s. w." Von griechischer Weisheit woll¬
ten sie nicht viel wissen. "Weil sie aber die Früchte eines großen volkstüm¬
lichen Sieges dauernd pflücken und vor Allem durch die einmal siegreich ge¬
wordene Frömmigkeit herrschen wollten, so gaben sie unwillkürlich von der ur¬
sprünglichen Strenge und Rauhigkeit (wohl Rauhheit, Herr Professor) jener
Frömmigkeit immer weiter nach und wurden durch die Folgen ihrer Stellung
und ihres Strebens immer mehr dahin gebracht, das zu mindern oder gar zu
läugnen, was sie am meisten hätten stärken und behaupten müssen."

Man bemerke die wunderliche Logik dieses Raisonnements: Um durch etwas
herrschen zu können, schwächt man es, gibt man es zum Theil auf, läßt man
das Gegentheil Platz greifen.

Und man bemerke ferner, wie oft in der Charakteristik der Pharisäer deren
Herrschsucht betont wird. Ewald vermag sich offenbar keinen stärkern Antrieb
zum Handeln vorzustellen, und wir begreifen das bei ihm.

In Fragen der strengern Wissenschaft wollten die Pharisäer zwischen den
Sadducäern und den Chassidäern vermitteln. Dem Volke gegenüber "verfielen
sie immer tiefer in jene Heuchelei, welche überall entsteht, wo man durch den
Schein der Frömmigkeit herrschen will." "Dem Volke schmeichelnd, um es zu
beherrschen, widmeten sie aus gleicher Ursache auch einzelnen Machthabern ihre
Dienste." "Auf diese Art mußten alle die Antriebe zu falscher Religion, welche
in der allgemeinen Richtung dieser letzten Jahrhunderte lagen (oben war diese
Richtung als eine besonders religiöse dargestellt), gerade in ihnen endlich am


Gott Wohlgefällige darin zu thun lehrte keine Religion von Haus aus so er¬
greifend wie die dieses Volkes; aber die Pharisäer machten aus den guten
Werken ein Schaugepränge, Vorzüglich suchten sie aus den Buchstaben des
heiligen Gesetzes gewisse äußere Kennzeichen eines an die Beobachtung des gan¬
zen Gesetzes gebundenen echten Frommen hervor und legten darauf großes Ge¬
wicht: die heilige Quaste am Kleide, obwohl diese jetzt wahrscheinlich längst
nicht mehr Sitte war; die Anheftung kleiner mit Worten aus dem Gesetz be¬
schriebener Rollen (der Phylakterien) an den Arm und Hals, die sie blos aus ei¬
ner zu ängstlichen Erklärung einiger Gesctzesworte zogen. Dazu die größte Strenge
in den übrigen, theils vorgeschriebenen, theils freiwilligen heiligen Bräuchen,
den Waschungen aller Art, den Fasten u. s. w." „In Ansehung des Stoffes
ihrer Lehren gingen sie eigentlich ganz von der großen geraden Entwickelung
aus, welche das strenge Judäerthum seit den Tagen Esras bis jetzt durchlaufen
hatte, setzten das Gesetz über Alles, ohne deshalb die andern aus dem Alter¬
thum ererbten Urkunden, Ueberlieferungen und Gebräuche der Religion zu verwer¬
fen, billigten die herkömmliche Schrifterklärung, ohne das Uebermaß im Andenken
(Allegonsiren) gutzuheißen, welches damals herrschend werden wollte, und hielten
sich übrigens gern etwas enge an das Volkstümliche und Hergebrachte sowie an
gute Lebensstilen, Ehre des Alters u. s. w." Von griechischer Weisheit woll¬
ten sie nicht viel wissen. „Weil sie aber die Früchte eines großen volkstüm¬
lichen Sieges dauernd pflücken und vor Allem durch die einmal siegreich ge¬
wordene Frömmigkeit herrschen wollten, so gaben sie unwillkürlich von der ur¬
sprünglichen Strenge und Rauhigkeit (wohl Rauhheit, Herr Professor) jener
Frömmigkeit immer weiter nach und wurden durch die Folgen ihrer Stellung
und ihres Strebens immer mehr dahin gebracht, das zu mindern oder gar zu
läugnen, was sie am meisten hätten stärken und behaupten müssen."

Man bemerke die wunderliche Logik dieses Raisonnements: Um durch etwas
herrschen zu können, schwächt man es, gibt man es zum Theil auf, läßt man
das Gegentheil Platz greifen.

Und man bemerke ferner, wie oft in der Charakteristik der Pharisäer deren
Herrschsucht betont wird. Ewald vermag sich offenbar keinen stärkern Antrieb
zum Handeln vorzustellen, und wir begreifen das bei ihm.

In Fragen der strengern Wissenschaft wollten die Pharisäer zwischen den
Sadducäern und den Chassidäern vermitteln. Dem Volke gegenüber „verfielen
sie immer tiefer in jene Heuchelei, welche überall entsteht, wo man durch den
Schein der Frömmigkeit herrschen will." „Dem Volke schmeichelnd, um es zu
beherrschen, widmeten sie aus gleicher Ursache auch einzelnen Machthabern ihre
Dienste." „Auf diese Art mußten alle die Antriebe zu falscher Religion, welche
in der allgemeinen Richtung dieser letzten Jahrhunderte lagen (oben war diese
Richtung als eine besonders religiöse dargestellt), gerade in ihnen endlich am


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/416>, abgerufen am 28.07.2024.