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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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gehobene Arm ist steif, der am Boden liegende Held erschüttert uns nicht, und
wie befreit athmen wir auf, wenn unser Blick aus ein daneben hängendes Bild
gleitet, wo ein Hochzeitszug, eine Taufe oder ein munterer Schwank, recht aus
dem vollen Leben herausgegriffen, uns die Natur unseres Volkes wiedergibt,
oder eine warm empfundene Abendlandschaft uns zu süßer Sehnsucht zwingt.

Ist's nicht ganz der gleiche Fall mit der dramatischen Poesie? Mit einem
Wort zu sagen, es ist der demokratische Grundzug unserer Zeit, der uns dem
Helden auf der Leinwand wie dem Helden auf der Bühne gegenüber von
vornherein kritisch stimmt, ganz abgesehen von dem innern Werth eines Stücks.
Die hervorragende, auf den Kothurn gestellte Persönlichkeit, die etwas für sich
sein will, flößt uns nicht mehr den rechten Respect ein; es thut uns leid, aber
wir können uns nicht zu anderer Stimmung zwingen und Einflüsse verläug-
nen, die vor Allem die ganz veränderte Gcschichtsanschauung auf unser Be¬
wußtsein überhaupt ausübt. Ja als die Geschichte noch eine Aufzählung der
Thaten von Herrschern und Helden, eine Perlenschnur von großen Männern
war! Aber die großen Männer selbst, wie anders werden sie jetzt behandelt!
Sonst, wenn man ihre Biographien schrieb, sing man bei ihrer Geburt an, schil¬
derte ihre Jugend und ihr Alter, ihr Leben und Sterben, heutzutage wird in
der Regel ein ganzer Band mit der Einleitung gefüllt, welche die Zeit, in die
der Mann hineingeboren wurde, die Verhältnisse, unter denen er so und so
werden mußte, umständlich schildert, zum Beweis, daß wir nicht hinaus können
über das Gefühl von der Kontinuität aller Entwicklung, in der auch der größte
Mann nicht als eine absolut neue Erscheinung auftritt, sondern als ein Glied
des Ganzen, dessen Wirksamkeit längst in der Zeit vorbereitet war.

Keine Frage, daß uns mit dieser Vertiefung der Geschichtserkenntniß zu¬
gleich der naive Sinn für die hervorragende Persönlichkeit sich abschwächte.
Das Heidenthum ist uns unverständlich geworden, wir haben keinen Glauben
mehr daran. Im Roman mit seiner breiten Wirklichkeit, der Fülle des realen
Lebens fühlen wir uns zu Hause; auch das sociale Drama wird einen gün¬
stigen Boden haben. Aber von der großen historischen Tragödie trennt uns
ein gewisses Etwas, für das ihr den nivellirenden, den revolutionären Geist
unserer Zeit verantwortlich machen müßt. Weniger, daß uns dadurch der
Genuß der älteren Kunstwerke, die in einer günstigeren, minder kritischen Zeit
geboren sind, verkümmert würde. Aber aus die dichterische Production selbst
muß dieser Zug, der durch die Zeit geht, von störenden Einflüsse sein. Der
Dichter selbst ist, ohne daß er es weiß, von dieser -- Krankheit, wenn man
will, von dieser skeptischen Stimmung angesteckt, er steht selbst nicht in einem
naiven, gläubigen Verhältniß zu den Gebilden, die er aus dem Stoff der Ge¬
schichte meißelt; bei jedem Schritt ist er unsicher, zweifelnd. Kann so mein
Held handeln, ohne daß er aus der Rolle fällt? Darf er dies sprechen, ohne


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gehobene Arm ist steif, der am Boden liegende Held erschüttert uns nicht, und
wie befreit athmen wir auf, wenn unser Blick aus ein daneben hängendes Bild
gleitet, wo ein Hochzeitszug, eine Taufe oder ein munterer Schwank, recht aus
dem vollen Leben herausgegriffen, uns die Natur unseres Volkes wiedergibt,
oder eine warm empfundene Abendlandschaft uns zu süßer Sehnsucht zwingt.

Ist's nicht ganz der gleiche Fall mit der dramatischen Poesie? Mit einem
Wort zu sagen, es ist der demokratische Grundzug unserer Zeit, der uns dem
Helden auf der Leinwand wie dem Helden auf der Bühne gegenüber von
vornherein kritisch stimmt, ganz abgesehen von dem innern Werth eines Stücks.
Die hervorragende, auf den Kothurn gestellte Persönlichkeit, die etwas für sich
sein will, flößt uns nicht mehr den rechten Respect ein; es thut uns leid, aber
wir können uns nicht zu anderer Stimmung zwingen und Einflüsse verläug-
nen, die vor Allem die ganz veränderte Gcschichtsanschauung auf unser Be¬
wußtsein überhaupt ausübt. Ja als die Geschichte noch eine Aufzählung der
Thaten von Herrschern und Helden, eine Perlenschnur von großen Männern
war! Aber die großen Männer selbst, wie anders werden sie jetzt behandelt!
Sonst, wenn man ihre Biographien schrieb, sing man bei ihrer Geburt an, schil¬
derte ihre Jugend und ihr Alter, ihr Leben und Sterben, heutzutage wird in
der Regel ein ganzer Band mit der Einleitung gefüllt, welche die Zeit, in die
der Mann hineingeboren wurde, die Verhältnisse, unter denen er so und so
werden mußte, umständlich schildert, zum Beweis, daß wir nicht hinaus können
über das Gefühl von der Kontinuität aller Entwicklung, in der auch der größte
Mann nicht als eine absolut neue Erscheinung auftritt, sondern als ein Glied
des Ganzen, dessen Wirksamkeit längst in der Zeit vorbereitet war.

Keine Frage, daß uns mit dieser Vertiefung der Geschichtserkenntniß zu¬
gleich der naive Sinn für die hervorragende Persönlichkeit sich abschwächte.
Das Heidenthum ist uns unverständlich geworden, wir haben keinen Glauben
mehr daran. Im Roman mit seiner breiten Wirklichkeit, der Fülle des realen
Lebens fühlen wir uns zu Hause; auch das sociale Drama wird einen gün¬
stigen Boden haben. Aber von der großen historischen Tragödie trennt uns
ein gewisses Etwas, für das ihr den nivellirenden, den revolutionären Geist
unserer Zeit verantwortlich machen müßt. Weniger, daß uns dadurch der
Genuß der älteren Kunstwerke, die in einer günstigeren, minder kritischen Zeit
geboren sind, verkümmert würde. Aber aus die dichterische Production selbst
muß dieser Zug, der durch die Zeit geht, von störenden Einflüsse sein. Der
Dichter selbst ist, ohne daß er es weiß, von dieser — Krankheit, wenn man
will, von dieser skeptischen Stimmung angesteckt, er steht selbst nicht in einem
naiven, gläubigen Verhältniß zu den Gebilden, die er aus dem Stoff der Ge¬
schichte meißelt; bei jedem Schritt ist er unsicher, zweifelnd. Kann so mein
Held handeln, ohne daß er aus der Rolle fällt? Darf er dies sprechen, ohne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/373>, abgerufen am 28.07.2024.