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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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riger sei, als die der Varietäten. Es ist aber kaum einzusehen, inwiefern dies
gegen Darwins Theorie sprechen soll. Daß Formen von geringer Verschieden¬
heit (Varietäten) sich leichter mischen als solche von größerer (Species) ist vom
darwinschen Standpunkt aus sehr begreiflich.

Darwin berührt eine Frage, welche der Hypothese der Stabilität der Ar¬
ten immer unlösbar bleiben wird. Wenn jede Pflanze, jedes Thier Plötzlich
mit einem Schlage erschaffen wurde, in welchem Entwickelungszustand trat die
Form auf? als Same oder als blühendes Gewächs, als El oder als ent¬
wickeltes Thier? Wenn ein Säugethier als solches plötzlich entstand, hatte es
da einen Nabel als falsches Zeichen einer nicht stattgehabten Geburt? wenn
es aber als El oder Fötus zuerst entstand, wie konnte die Entwickelung weiter
gehen außerhalb des Mutterleibes?

Ein auffallend merkwürdiger Zug in Darwins epochemachenden Werke ist
es, daß er seine Theorie nicht mit einem Worte auf den Menschen bezieht.
Diese Lücke ist indessen durch Huxley. einen der bedeutendsten Physiologen Englands
kürzlich ausgefüllt worden. In seinem Buche "Doi6euee s." to eng.n's v1g.es in
naturf" (1863) stellt er eine Reihe einzelner Abhandlungen zusammen, welche
dieses Thema von verschiedenen Seiten berühren. Wir heben nur einige seiner
wichtigsten Sätze hervor, welche in gerader Linie dem Ziel entgegengehen,
zumal vermeiden wir es, auf seine Untersuchung über fossile Menschenreste ein¬
zugehen, da uns dies in ein weitläufiges Detail einführen müßte, und da
ohnehin schon im vorigen Jahre in diesen Heften eine Skizze der neueren For¬
schungen darüber von geübter Hand mitgetheilt wurde. Nachdem er in der
ersten Abhandlung die besten Nachrichten über die menschenähnlichsten Affen,
den Orang, Chimpanse, Gibbon und Gorilla zusammengestellt hat, geht er in
der zweiten ohne Umschweife an die Frage, welche Stellung der Mensch den
Affen gegenüber einnimmt. "Von Angesicht zu Angesicht diesen Kopien seiner
selbst," sagt er, "gegenübergestellt, fühlt auch der gedankenloseste der Menschen
so etwas wie einen inneren Stoß, der nicht sowohl von dem widerlichen Anblick
eines Dinges, welches wie eine beleidigende Caricatur aussieht, herrührt, als
vielmehr von dem Erwachen eines plötzlichen und tiefen Mißtrauens in Betreff der
zur Zeit geehrten Theorien und fcstcingewurzelten Vorurtheile, welche seine eigene
Stellung in der Natur betreffen und seine Beziehungen zu den niederen Stufen
des Lebens. Was indessen für den Gedankenlosen eine dunkle Vermuthung
bleibt, wird ein weitgreifendes Argument, beladen mit den eindringcndsten Con-
sequenzen, für alle die, welche mit den neueren Fortschritten der Anatomie und
Physiologie bekannt sind." Er entwickelt nun seinen Lesern die in der Physio¬
logie wohlbekannte Thatsache, daß innerhalb großer Formenkreise die ersten
Fötalzustände einander in weit höherem Grade ähnlich sind, als die vollständig
entwickelten Formen, bei denen die Differenzen erst deutlich hervortreten. Je


riger sei, als die der Varietäten. Es ist aber kaum einzusehen, inwiefern dies
gegen Darwins Theorie sprechen soll. Daß Formen von geringer Verschieden¬
heit (Varietäten) sich leichter mischen als solche von größerer (Species) ist vom
darwinschen Standpunkt aus sehr begreiflich.

Darwin berührt eine Frage, welche der Hypothese der Stabilität der Ar¬
ten immer unlösbar bleiben wird. Wenn jede Pflanze, jedes Thier Plötzlich
mit einem Schlage erschaffen wurde, in welchem Entwickelungszustand trat die
Form auf? als Same oder als blühendes Gewächs, als El oder als ent¬
wickeltes Thier? Wenn ein Säugethier als solches plötzlich entstand, hatte es
da einen Nabel als falsches Zeichen einer nicht stattgehabten Geburt? wenn
es aber als El oder Fötus zuerst entstand, wie konnte die Entwickelung weiter
gehen außerhalb des Mutterleibes?

Ein auffallend merkwürdiger Zug in Darwins epochemachenden Werke ist
es, daß er seine Theorie nicht mit einem Worte auf den Menschen bezieht.
Diese Lücke ist indessen durch Huxley. einen der bedeutendsten Physiologen Englands
kürzlich ausgefüllt worden. In seinem Buche „Doi6euee s.» to eng.n's v1g.es in
naturf" (1863) stellt er eine Reihe einzelner Abhandlungen zusammen, welche
dieses Thema von verschiedenen Seiten berühren. Wir heben nur einige seiner
wichtigsten Sätze hervor, welche in gerader Linie dem Ziel entgegengehen,
zumal vermeiden wir es, auf seine Untersuchung über fossile Menschenreste ein¬
zugehen, da uns dies in ein weitläufiges Detail einführen müßte, und da
ohnehin schon im vorigen Jahre in diesen Heften eine Skizze der neueren For¬
schungen darüber von geübter Hand mitgetheilt wurde. Nachdem er in der
ersten Abhandlung die besten Nachrichten über die menschenähnlichsten Affen,
den Orang, Chimpanse, Gibbon und Gorilla zusammengestellt hat, geht er in
der zweiten ohne Umschweife an die Frage, welche Stellung der Mensch den
Affen gegenüber einnimmt. „Von Angesicht zu Angesicht diesen Kopien seiner
selbst," sagt er, „gegenübergestellt, fühlt auch der gedankenloseste der Menschen
so etwas wie einen inneren Stoß, der nicht sowohl von dem widerlichen Anblick
eines Dinges, welches wie eine beleidigende Caricatur aussieht, herrührt, als
vielmehr von dem Erwachen eines plötzlichen und tiefen Mißtrauens in Betreff der
zur Zeit geehrten Theorien und fcstcingewurzelten Vorurtheile, welche seine eigene
Stellung in der Natur betreffen und seine Beziehungen zu den niederen Stufen
des Lebens. Was indessen für den Gedankenlosen eine dunkle Vermuthung
bleibt, wird ein weitgreifendes Argument, beladen mit den eindringcndsten Con-
sequenzen, für alle die, welche mit den neueren Fortschritten der Anatomie und
Physiologie bekannt sind." Er entwickelt nun seinen Lesern die in der Physio¬
logie wohlbekannte Thatsache, daß innerhalb großer Formenkreise die ersten
Fötalzustände einander in weit höherem Grade ähnlich sind, als die vollständig
entwickelten Formen, bei denen die Differenzen erst deutlich hervortreten. Je


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/359>, abgerufen am 28.07.2024.