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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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logischen Sammlungen viel zu unvollständig sind, um gegenwärtig die Ueber-
gangsformen zwischen einer früher und jetzt lebenden Species sämmtlich auf¬
finden zu können; er macht es wahrscheinlich, daß ^dies überhaupt kaum gelingen
wird, denn die in den geologischen Schichten aufbewahrten Ueberreste sind keine
vollständige Sammlung, sondern nothwendig ein Spiel des buntesten Zufalls.
Zudem ist es gerade nach seiner Theorie gewiß, daß die Uebergangsformen nur
während relativ kurzer Zeiten sich erhielten, die aus ihnen hervorgehenden be¬
standsfähigen Formen, die man jetzt Arten nennt, mußten einmal entstanden
selbst dazu beitragen, die minder gut ausgerüsteten Uebergangsformen zu ver¬
drängen. Auch waren die letzteren der Natur der Sache gemäß auf kleine
Areale beschränkt. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Erhaltung im fossilen Zu¬
stand ist daher viel geringer, als bei lange lebenden und weit verbreiteten gut
charakterisirten Arten. Uebrigens braucht man ja nicht auf die fossilen Ueber-
reste zurückzugehen, um Uebergänge zu finden, um Beispiele für Darwins Theo¬
rie zu sehen. Unter den jetzt lebenden Thier- und Pflanzengattungen gibt es
nicht wenige, deren Formen die leisesten Uebergänge darbieten und die Auf¬
stellung deutlich verschiedener Arten unmöglich machen. Die in dieser Richtung
liegenden Einwände werden aber dadurch definitiv zu beseitigen sein, daß man
die Variationen während längerer Zeiträume wirklich verfolgt. Unsere Cultur¬
pflanzen und Hausthiere bieten zwar eine überwältigende Fülle von Varietäten,
und immerfort entstehen neue, durch die mit Bewußtsein geführte Auswahl ge¬
lingt es den Züchtern in kürzerer Zeit namhafte Unterschiede zu produciren, und
Darwin weist auf die merkwürdige Thatsache hin, daß die so durch künstliche
Auswahl entstandenen Formen sich in einem Punkte wesentlich von den wilden
durch'natürliche Auswahl entstandenen unterscheiden; bei letzteren ist jede sich
ausbildende Eigenschaft eine solche, welche für das betreffende Thier oder die
Pflanze selbst einen Nutzen hat, und trifft die verschiedensten Theile der Orga¬
nisation. Bei den durch künstliche Auswahl entstandenen Formen sind dagegen
die neuen Eigenschaften wesentlich solche, welche einer Absicht des Menschen
entsprechen, ja nicht selten kommt es so weit, daß auf diese Weise Eigenschaften
erzeugt werden, welche dem Bestehen des Organismus geradezu schädlich sind,
die Füllung der Gartenblumen, die Schweine und Rinder, deren Beine
durch die Cultur bis zur Untauglichkeit verkleinert sind u. s. w., liefern bekannte
Beispiele. Der Effect der künstlichen Auswahl macht sich auch darin geltend,
daß bei den cultivirten Pflanzen und Thieren gerade diejenigen Theile die ver¬
schiedensten Variationen zeigen, welche der Mensch besonders benutzt, während
die übrigen oft kaum merkliche Abweichungen zeigen. So unterscheidet man
an der Runkelrübe, deren Wurzeln den werthvollen Theil bilden, daher einer
genauen Auswahl unterzogen werden, zahlreiche und sehr verschiedene Wurzel¬
bildungen, während Blätter und Blüthen sich wenig unterscheiden. Bei dem


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logischen Sammlungen viel zu unvollständig sind, um gegenwärtig die Ueber-
gangsformen zwischen einer früher und jetzt lebenden Species sämmtlich auf¬
finden zu können; er macht es wahrscheinlich, daß ^dies überhaupt kaum gelingen
wird, denn die in den geologischen Schichten aufbewahrten Ueberreste sind keine
vollständige Sammlung, sondern nothwendig ein Spiel des buntesten Zufalls.
Zudem ist es gerade nach seiner Theorie gewiß, daß die Uebergangsformen nur
während relativ kurzer Zeiten sich erhielten, die aus ihnen hervorgehenden be¬
standsfähigen Formen, die man jetzt Arten nennt, mußten einmal entstanden
selbst dazu beitragen, die minder gut ausgerüsteten Uebergangsformen zu ver¬
drängen. Auch waren die letzteren der Natur der Sache gemäß auf kleine
Areale beschränkt. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Erhaltung im fossilen Zu¬
stand ist daher viel geringer, als bei lange lebenden und weit verbreiteten gut
charakterisirten Arten. Uebrigens braucht man ja nicht auf die fossilen Ueber-
reste zurückzugehen, um Uebergänge zu finden, um Beispiele für Darwins Theo¬
rie zu sehen. Unter den jetzt lebenden Thier- und Pflanzengattungen gibt es
nicht wenige, deren Formen die leisesten Uebergänge darbieten und die Auf¬
stellung deutlich verschiedener Arten unmöglich machen. Die in dieser Richtung
liegenden Einwände werden aber dadurch definitiv zu beseitigen sein, daß man
die Variationen während längerer Zeiträume wirklich verfolgt. Unsere Cultur¬
pflanzen und Hausthiere bieten zwar eine überwältigende Fülle von Varietäten,
und immerfort entstehen neue, durch die mit Bewußtsein geführte Auswahl ge¬
lingt es den Züchtern in kürzerer Zeit namhafte Unterschiede zu produciren, und
Darwin weist auf die merkwürdige Thatsache hin, daß die so durch künstliche
Auswahl entstandenen Formen sich in einem Punkte wesentlich von den wilden
durch'natürliche Auswahl entstandenen unterscheiden; bei letzteren ist jede sich
ausbildende Eigenschaft eine solche, welche für das betreffende Thier oder die
Pflanze selbst einen Nutzen hat, und trifft die verschiedensten Theile der Orga¬
nisation. Bei den durch künstliche Auswahl entstandenen Formen sind dagegen
die neuen Eigenschaften wesentlich solche, welche einer Absicht des Menschen
entsprechen, ja nicht selten kommt es so weit, daß auf diese Weise Eigenschaften
erzeugt werden, welche dem Bestehen des Organismus geradezu schädlich sind,
die Füllung der Gartenblumen, die Schweine und Rinder, deren Beine
durch die Cultur bis zur Untauglichkeit verkleinert sind u. s. w., liefern bekannte
Beispiele. Der Effect der künstlichen Auswahl macht sich auch darin geltend,
daß bei den cultivirten Pflanzen und Thieren gerade diejenigen Theile die ver¬
schiedensten Variationen zeigen, welche der Mensch besonders benutzt, während
die übrigen oft kaum merkliche Abweichungen zeigen. So unterscheidet man
an der Runkelrübe, deren Wurzeln den werthvollen Theil bilden, daher einer
genauen Auswahl unterzogen werden, zahlreiche und sehr verschiedene Wurzel¬
bildungen, während Blätter und Blüthen sich wenig unterscheiden. Bei dem


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[0357] logischen Sammlungen viel zu unvollständig sind, um gegenwärtig die Ueber- gangsformen zwischen einer früher und jetzt lebenden Species sämmtlich auf¬ finden zu können; er macht es wahrscheinlich, daß ^dies überhaupt kaum gelingen wird, denn die in den geologischen Schichten aufbewahrten Ueberreste sind keine vollständige Sammlung, sondern nothwendig ein Spiel des buntesten Zufalls. Zudem ist es gerade nach seiner Theorie gewiß, daß die Uebergangsformen nur während relativ kurzer Zeiten sich erhielten, die aus ihnen hervorgehenden be¬ standsfähigen Formen, die man jetzt Arten nennt, mußten einmal entstanden selbst dazu beitragen, die minder gut ausgerüsteten Uebergangsformen zu ver¬ drängen. Auch waren die letzteren der Natur der Sache gemäß auf kleine Areale beschränkt. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Erhaltung im fossilen Zu¬ stand ist daher viel geringer, als bei lange lebenden und weit verbreiteten gut charakterisirten Arten. Uebrigens braucht man ja nicht auf die fossilen Ueber- reste zurückzugehen, um Uebergänge zu finden, um Beispiele für Darwins Theo¬ rie zu sehen. Unter den jetzt lebenden Thier- und Pflanzengattungen gibt es nicht wenige, deren Formen die leisesten Uebergänge darbieten und die Auf¬ stellung deutlich verschiedener Arten unmöglich machen. Die in dieser Richtung liegenden Einwände werden aber dadurch definitiv zu beseitigen sein, daß man die Variationen während längerer Zeiträume wirklich verfolgt. Unsere Cultur¬ pflanzen und Hausthiere bieten zwar eine überwältigende Fülle von Varietäten, und immerfort entstehen neue, durch die mit Bewußtsein geführte Auswahl ge¬ lingt es den Züchtern in kürzerer Zeit namhafte Unterschiede zu produciren, und Darwin weist auf die merkwürdige Thatsache hin, daß die so durch künstliche Auswahl entstandenen Formen sich in einem Punkte wesentlich von den wilden durch'natürliche Auswahl entstandenen unterscheiden; bei letzteren ist jede sich ausbildende Eigenschaft eine solche, welche für das betreffende Thier oder die Pflanze selbst einen Nutzen hat, und trifft die verschiedensten Theile der Orga¬ nisation. Bei den durch künstliche Auswahl entstandenen Formen sind dagegen die neuen Eigenschaften wesentlich solche, welche einer Absicht des Menschen entsprechen, ja nicht selten kommt es so weit, daß auf diese Weise Eigenschaften erzeugt werden, welche dem Bestehen des Organismus geradezu schädlich sind, die Füllung der Gartenblumen, die Schweine und Rinder, deren Beine durch die Cultur bis zur Untauglichkeit verkleinert sind u. s. w., liefern bekannte Beispiele. Der Effect der künstlichen Auswahl macht sich auch darin geltend, daß bei den cultivirten Pflanzen und Thieren gerade diejenigen Theile die ver¬ schiedensten Variationen zeigen, welche der Mensch besonders benutzt, während die übrigen oft kaum merkliche Abweichungen zeigen. So unterscheidet man an der Runkelrübe, deren Wurzeln den werthvollen Theil bilden, daher einer genauen Auswahl unterzogen werden, zahlreiche und sehr verschiedene Wurzel¬ bildungen, während Blätter und Blüthen sich wenig unterscheiden. Bei dem 44»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/357>, abgerufen am 22.12.2024.