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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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sammentreten sehen, der die Fesseln allmälig wieder löst, welche man sich so
künstlich anzulegen gewußt hat, der Tag, an welchem Deutschland seine mer-
kantilische Unabhängigkeit behauptet, wird dereinst von ganz Europa, ja von
der ganzen Welt als der Stiftungstag eines neuen Handelssystems gefeiert
werden. Und wiederum tritt neben diesen idealen kosmopolitischen Zukunfts¬
träumen zugleich das nationale Moment als wesentlich bestimmend auf. Die
Lage der deutschen Länder, sagt er, die ökonomischen Verhältnisse und Verbin¬
dungen der deutschen Völker, ihre Sprache, ihre Sitten, ihr Charakter, ihre Gefühle,
ihre Literatur und ihre Bildung überhaupt, sodann ihre seit einem Jahrtausend
bestandene Verfassung, der gegenwärtige Zustand von Europa und die Macht
der sie umgebenden Nationen machen einen Bund der Deutschen zur Natur¬
nothwendigkeit, einen Bund, wodurch sie sich zu einem großen Ganzen ver¬
einen, um nach außen die Rechte einer europäischen Nation zu wahren, im
Innern aber Wohlstand und Bildung zu befördern.

Bekanntlich war Alles zunächst in den Wind gesprochen. Aber von An¬
deren aufgenommen, von den-Mächstbetheiligten unermüdlich wiederholt, endlich
in die Cabinete verpflanzt, thaten jene Ideen ihre Wirkung, so lange Friedrich
List im Exil jenseits des Oceans weilte. Als er ins Vaterland zurückkehrte,
war der Zollverein eine Thatsache. Die erste Forderung Lifts, die Aufhebung
der inneren Zollschranken war wenigstens für den größeren Theil Deutschlands
erreicht, es war ein Kern gebildet, von dessen Anziehungskraft sich das Uebrige
hoffen ließ. Die Zollvereinigung beruhte eos einem Tarif, den List noch später
wiederholt als höchst segensreich anerkannte; er hielt eine gemäßigte Mitte
zwischen Prohibition und Freihandel, schien also ganz dazu geeignet, dem von
List gewollten Zweck der Erziehung der Nation zu wirthschaftlicher Selbst-
ständigkeit zu dienen. Aber es kam nun darauf an, welche bestimmtere Handels¬
politik von diesem gleichsam neutralen Anfang an der Zollverein einschlagen
werde, um zunächst die Ausdehnung seines Gebiets über ganz Deutschland und
sodann die weiteren Ziele, welche mit List alle Patrioten an dessen Gründung
knüpften, zu erreichen. Es ist bekannt, welche Stellung List zu dieser Frage
einnahm, wie er durch leidenschaftliche Verfechtung einer inzwischen in Nord¬
amerika ausgebildeten Theorie sich mitten in einen erbitterten Kampf gestellt
sah, dessen wohlthätige Folgen über den Irrthümern seiner Lehre nicht ver¬
gessen werden dürfen. Am wenigsten darf es die Presse vergessen, der er durch
seine populäre Agitation ein ganz neues Gebiet zuführte. Bisher vorzugs¬
weise den ästhetischen oder nur den reinpolitischen, besonders auswärtigen An¬
gelegenheiten zugewandt, wurde jetzt das größere Publicum für das Interesse
an den materiellen Fragen des Vaterlands gewonnen. Die volkswirtschaftlichen
Probleme wurden Gegenstand allgemeiner Discussion, es bildeten sich Parteien
mit ihren besondern Organen, und wenn heute die Ueberzeugung allgemein ist,


sammentreten sehen, der die Fesseln allmälig wieder löst, welche man sich so
künstlich anzulegen gewußt hat, der Tag, an welchem Deutschland seine mer-
kantilische Unabhängigkeit behauptet, wird dereinst von ganz Europa, ja von
der ganzen Welt als der Stiftungstag eines neuen Handelssystems gefeiert
werden. Und wiederum tritt neben diesen idealen kosmopolitischen Zukunfts¬
träumen zugleich das nationale Moment als wesentlich bestimmend auf. Die
Lage der deutschen Länder, sagt er, die ökonomischen Verhältnisse und Verbin¬
dungen der deutschen Völker, ihre Sprache, ihre Sitten, ihr Charakter, ihre Gefühle,
ihre Literatur und ihre Bildung überhaupt, sodann ihre seit einem Jahrtausend
bestandene Verfassung, der gegenwärtige Zustand von Europa und die Macht
der sie umgebenden Nationen machen einen Bund der Deutschen zur Natur¬
nothwendigkeit, einen Bund, wodurch sie sich zu einem großen Ganzen ver¬
einen, um nach außen die Rechte einer europäischen Nation zu wahren, im
Innern aber Wohlstand und Bildung zu befördern.

Bekanntlich war Alles zunächst in den Wind gesprochen. Aber von An¬
deren aufgenommen, von den-Mächstbetheiligten unermüdlich wiederholt, endlich
in die Cabinete verpflanzt, thaten jene Ideen ihre Wirkung, so lange Friedrich
List im Exil jenseits des Oceans weilte. Als er ins Vaterland zurückkehrte,
war der Zollverein eine Thatsache. Die erste Forderung Lifts, die Aufhebung
der inneren Zollschranken war wenigstens für den größeren Theil Deutschlands
erreicht, es war ein Kern gebildet, von dessen Anziehungskraft sich das Uebrige
hoffen ließ. Die Zollvereinigung beruhte eos einem Tarif, den List noch später
wiederholt als höchst segensreich anerkannte; er hielt eine gemäßigte Mitte
zwischen Prohibition und Freihandel, schien also ganz dazu geeignet, dem von
List gewollten Zweck der Erziehung der Nation zu wirthschaftlicher Selbst-
ständigkeit zu dienen. Aber es kam nun darauf an, welche bestimmtere Handels¬
politik von diesem gleichsam neutralen Anfang an der Zollverein einschlagen
werde, um zunächst die Ausdehnung seines Gebiets über ganz Deutschland und
sodann die weiteren Ziele, welche mit List alle Patrioten an dessen Gründung
knüpften, zu erreichen. Es ist bekannt, welche Stellung List zu dieser Frage
einnahm, wie er durch leidenschaftliche Verfechtung einer inzwischen in Nord¬
amerika ausgebildeten Theorie sich mitten in einen erbitterten Kampf gestellt
sah, dessen wohlthätige Folgen über den Irrthümern seiner Lehre nicht ver¬
gessen werden dürfen. Am wenigsten darf es die Presse vergessen, der er durch
seine populäre Agitation ein ganz neues Gebiet zuführte. Bisher vorzugs¬
weise den ästhetischen oder nur den reinpolitischen, besonders auswärtigen An¬
gelegenheiten zugewandt, wurde jetzt das größere Publicum für das Interesse
an den materiellen Fragen des Vaterlands gewonnen. Die volkswirtschaftlichen
Probleme wurden Gegenstand allgemeiner Discussion, es bildeten sich Parteien
mit ihren besondern Organen, und wenn heute die Ueberzeugung allgemein ist,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/335>, abgerufen am 28.07.2024.