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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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innerhalb großer Classen geltend macht und das Problem durch die natürliche
Auswahl bis jetzt seine einzige genügende Lösung gefunden hat, so muß man
Darwins Lehre wenigstens so weit gelten lassen, daß alle Formen einer morpho¬
logisch gut bestimmten und scharf charakterisirten Classe als aus einer Grund¬
form hervorgegangen zu betrachten sind. Nur in diesem Umfange angewendet
hat die Theorie einen hohen Werth; denn wollte man sie auf die Erklärung
kleinerer Gruppen, einzelner Familien oder Gattungen beschränken, so bliebe das
morphologische Problem gerade in seiner wesentlichsten Form ungelöst. Unter
der Annahme, daß die gegenwärtig in der Botanik und Zoologie giltigen
Classen gut charakterifirt sind, würde man also sagen können, daß alle Dikotylen,
alle Monokotylen, alle Gymnospermen, alle Equiseten u. s. w., daß ebenso
sämmtliche Wirbelthiere, sämmtliche Gliederthiere u. s. w. je von einer gemein¬
samen Grundform abstammen. Die morphologische Forschung muß darüber
entscheiden, inwieweit Uebergänge zwischen den großen Classen wirklich existiren,
und inwieweit daher das Problem des Dualismus sich von einer Classe auf die
andere ausdehnt. Darwin selbst scheint es ebenfalls der Zukunft zu überlassen, in
welchem Umfange seine Lehre zur Geltung kommen kann, doch hält er es nicht
für unmöglich, daß vielleicht sämmtliche Thierformen von einem Urthier, sämmt¬
liche Pflanzen von einer UrPflanze herzuleiten sein möchten, ja er wagt den
Gedanken, daß vielleicht sämmtliche Thiere und Pflanzen zusammen einem ersten
gemeinsamen Urvater entsprossen sind. Das Schicksal der schönen, grandiosen
Theorie wird von der Mäßigung ihrer Verehrer abhängen, der Umfang ihrer
Anwendung muß durchaus den Fortschritten der Morphologie. Physiologie,
Paläontologie und Pflanzengeographie sich eng anschmiegen. Es ist in diesem
Sinne sehr anzuerkennen, daß Darwin eine Klippe vermied. welche Lamarck
nicht umging; er wollte die Erscheinungen, welche in der Mannigfaltigkeit der
Organismen sich geltend machen, erklären, und sing damit an, einen Urorga-
nismus zu construiren, wofür einstweilen kein wissenschaftliches Bedürfniß vor¬
lag. Darwin hat die erste Entstehung des Lebens überhaupt ganz ausgeschlos¬
sen von seinen Betrachtungen; denn bis jetzt fehlt es für die Lösung dieser
Frage an jedem thatsächlichen Anhalt, und selbst wenn sich eine wahrscheinliche
Lösung ersinnen ließe, so würde sie doch keinem jetzt gefühlten Bedürfniß der
Wissenschaft entgegenkommen. Es wird wahrscheinlich noch lange dauern,
bis die Zeit kommt, wo die wissenschaftlichen Resultate die Discussion dieser
Frage nöthig machen. Wenn irgendwo, wird hier das Wort gelten: yui an
trvx, rrö an rivu.

(Schluß in nächster Nummer.)




innerhalb großer Classen geltend macht und das Problem durch die natürliche
Auswahl bis jetzt seine einzige genügende Lösung gefunden hat, so muß man
Darwins Lehre wenigstens so weit gelten lassen, daß alle Formen einer morpho¬
logisch gut bestimmten und scharf charakterisirten Classe als aus einer Grund¬
form hervorgegangen zu betrachten sind. Nur in diesem Umfange angewendet
hat die Theorie einen hohen Werth; denn wollte man sie auf die Erklärung
kleinerer Gruppen, einzelner Familien oder Gattungen beschränken, so bliebe das
morphologische Problem gerade in seiner wesentlichsten Form ungelöst. Unter
der Annahme, daß die gegenwärtig in der Botanik und Zoologie giltigen
Classen gut charakterifirt sind, würde man also sagen können, daß alle Dikotylen,
alle Monokotylen, alle Gymnospermen, alle Equiseten u. s. w., daß ebenso
sämmtliche Wirbelthiere, sämmtliche Gliederthiere u. s. w. je von einer gemein¬
samen Grundform abstammen. Die morphologische Forschung muß darüber
entscheiden, inwieweit Uebergänge zwischen den großen Classen wirklich existiren,
und inwieweit daher das Problem des Dualismus sich von einer Classe auf die
andere ausdehnt. Darwin selbst scheint es ebenfalls der Zukunft zu überlassen, in
welchem Umfange seine Lehre zur Geltung kommen kann, doch hält er es nicht
für unmöglich, daß vielleicht sämmtliche Thierformen von einem Urthier, sämmt¬
liche Pflanzen von einer UrPflanze herzuleiten sein möchten, ja er wagt den
Gedanken, daß vielleicht sämmtliche Thiere und Pflanzen zusammen einem ersten
gemeinsamen Urvater entsprossen sind. Das Schicksal der schönen, grandiosen
Theorie wird von der Mäßigung ihrer Verehrer abhängen, der Umfang ihrer
Anwendung muß durchaus den Fortschritten der Morphologie. Physiologie,
Paläontologie und Pflanzengeographie sich eng anschmiegen. Es ist in diesem
Sinne sehr anzuerkennen, daß Darwin eine Klippe vermied. welche Lamarck
nicht umging; er wollte die Erscheinungen, welche in der Mannigfaltigkeit der
Organismen sich geltend machen, erklären, und sing damit an, einen Urorga-
nismus zu construiren, wofür einstweilen kein wissenschaftliches Bedürfniß vor¬
lag. Darwin hat die erste Entstehung des Lebens überhaupt ganz ausgeschlos¬
sen von seinen Betrachtungen; denn bis jetzt fehlt es für die Lösung dieser
Frage an jedem thatsächlichen Anhalt, und selbst wenn sich eine wahrscheinliche
Lösung ersinnen ließe, so würde sie doch keinem jetzt gefühlten Bedürfniß der
Wissenschaft entgegenkommen. Es wird wahrscheinlich noch lange dauern,
bis die Zeit kommt, wo die wissenschaftlichen Resultate die Discussion dieser
Frage nöthig machen. Wenn irgendwo, wird hier das Wort gelten: yui an
trvx, rrö an rivu.

(Schluß in nächster Nummer.)




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[0314] innerhalb großer Classen geltend macht und das Problem durch die natürliche Auswahl bis jetzt seine einzige genügende Lösung gefunden hat, so muß man Darwins Lehre wenigstens so weit gelten lassen, daß alle Formen einer morpho¬ logisch gut bestimmten und scharf charakterisirten Classe als aus einer Grund¬ form hervorgegangen zu betrachten sind. Nur in diesem Umfange angewendet hat die Theorie einen hohen Werth; denn wollte man sie auf die Erklärung kleinerer Gruppen, einzelner Familien oder Gattungen beschränken, so bliebe das morphologische Problem gerade in seiner wesentlichsten Form ungelöst. Unter der Annahme, daß die gegenwärtig in der Botanik und Zoologie giltigen Classen gut charakterifirt sind, würde man also sagen können, daß alle Dikotylen, alle Monokotylen, alle Gymnospermen, alle Equiseten u. s. w., daß ebenso sämmtliche Wirbelthiere, sämmtliche Gliederthiere u. s. w. je von einer gemein¬ samen Grundform abstammen. Die morphologische Forschung muß darüber entscheiden, inwieweit Uebergänge zwischen den großen Classen wirklich existiren, und inwieweit daher das Problem des Dualismus sich von einer Classe auf die andere ausdehnt. Darwin selbst scheint es ebenfalls der Zukunft zu überlassen, in welchem Umfange seine Lehre zur Geltung kommen kann, doch hält er es nicht für unmöglich, daß vielleicht sämmtliche Thierformen von einem Urthier, sämmt¬ liche Pflanzen von einer UrPflanze herzuleiten sein möchten, ja er wagt den Gedanken, daß vielleicht sämmtliche Thiere und Pflanzen zusammen einem ersten gemeinsamen Urvater entsprossen sind. Das Schicksal der schönen, grandiosen Theorie wird von der Mäßigung ihrer Verehrer abhängen, der Umfang ihrer Anwendung muß durchaus den Fortschritten der Morphologie. Physiologie, Paläontologie und Pflanzengeographie sich eng anschmiegen. Es ist in diesem Sinne sehr anzuerkennen, daß Darwin eine Klippe vermied. welche Lamarck nicht umging; er wollte die Erscheinungen, welche in der Mannigfaltigkeit der Organismen sich geltend machen, erklären, und sing damit an, einen Urorga- nismus zu construiren, wofür einstweilen kein wissenschaftliches Bedürfniß vor¬ lag. Darwin hat die erste Entstehung des Lebens überhaupt ganz ausgeschlos¬ sen von seinen Betrachtungen; denn bis jetzt fehlt es für die Lösung dieser Frage an jedem thatsächlichen Anhalt, und selbst wenn sich eine wahrscheinliche Lösung ersinnen ließe, so würde sie doch keinem jetzt gefühlten Bedürfniß der Wissenschaft entgegenkommen. Es wird wahrscheinlich noch lange dauern, bis die Zeit kommt, wo die wissenschaftlichen Resultate die Discussion dieser Frage nöthig machen. Wenn irgendwo, wird hier das Wort gelten: yui an trvx, rrö an rivu. (Schluß in nächster Nummer.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/314>, abgerufen am 01.09.2024.