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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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und sonstigen Bedingungen der Existenz zusammen; zahlreiche europäische Pflan¬
zen haben sich in Amerika verbreitet, und umgekehrt; die Pferde der Spanier
fanden in Südamerika Bedingungen ihres Gedeihens, wie nirgend anders wo.
Diese Thatsachen erklären sich sehr einfach aus Darwins Theorie, sie sind un¬
erklärlich nach der Hypothese constanter Formen, welche besonders erschaffen
und jedesmal für die Wohnorte adaptirt wurden.

Die natürliche Auswahl, auf dem Kampf um das Dasein beruhend, ist an
sich ein negircndes, gewissermaßen kritisirendcs Moment; das positiv Schöpferische
liegt in der freiwilligen Variation mit der Fähigkeit, die alten und neuen
Eigenschaften zusammen zu vererben. Jede neu entstehende Art von Pflanzen
und Thieren wird das Wesentliche ihres Baues der früheren Urform verdanken,
aus der sie sich hervorbildete, ihre Adaptationen aber verdankt sie der Varie¬
tätenbildung und der natürlichen Auswahl. Da sich nun aus einer früher
vorhandenen Form neue Varietäten und später neue charakteristische, bestands¬
fähige Formen in sehr verschiedener Richtung entwickeln können, so wird es
nothwendig kommen, daß endlich eine größere Zahl ganz verschieden adaptirter
Arten sich finden, deren wesentliche morphologische Eigenschaften dennoch über-
einstimmen. Auf diese Art wird es sich erklären, warum ein Pferdefuß, ein
Elcphantenfuß. der Grabfuß des Maulwurfs, die Hand des Affen, der Flügel
der Fledermaus, obgleich so verschieden in Ansehen und Gebrauch, dennoch we¬
sentlich denselben Bau zeigen, wenn man mit Darwin annimmt, daß diese
Thierformen sämmtlich aus einer gemeinsamen Urform, die in einem früheren
geologischen Zeitalter existirte, durch Ausartung entstanden sind. Daß der Grab¬
fuß einer Maulwurfsgrille im Gebrauch mit dem entsprechenden Organe des
Maulwurfs übereinstimmt, während jeder nach einem völlig verschiedenen Plane
gebaut ist, wird dadurch zu erklären sein, daß beide Thierformen ursprünglich
aus ganz verschiedenen Urformen sich durch ähnliche Adaptation entwickelt ha¬
ben. Das darwinsche Princip der natürlichen Auswahl ist im Stande, das
große Problem des Dualismus im Bau der Organismen durchaus genügend zu
erklären, sobald wir der Ausartung und somit der Thätigkeit der natürlichen
Auswahl keine zu engen Grenzen setzen. Wo aber liegt hier die Grenze?
gibt es überhaupt eine Grenze für diese Processe? Es fehlt gegenwärtig an
hinreichenden Argumenten für das Ja wie für das Nein, und es ist eine auf
unvollkommener Beobachtung und noch unvollkommenerer Erwägung beruhend-
Behauptung von Seiten der Gegner, daß die Grenzen der Variationen sehr eng
gezogen seien und den Zwischenraum, der zwei sogenannte Species trennt,
niemals überschreiten.

Darwins Theorie hat einen mehr oder minder hohen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit in sich, je nach dem Umfang, in welchem man ihre Consequenzen
anwendet. Da sich das Hauptproblem, der Dualismus in der Organisation,


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und sonstigen Bedingungen der Existenz zusammen; zahlreiche europäische Pflan¬
zen haben sich in Amerika verbreitet, und umgekehrt; die Pferde der Spanier
fanden in Südamerika Bedingungen ihres Gedeihens, wie nirgend anders wo.
Diese Thatsachen erklären sich sehr einfach aus Darwins Theorie, sie sind un¬
erklärlich nach der Hypothese constanter Formen, welche besonders erschaffen
und jedesmal für die Wohnorte adaptirt wurden.

Die natürliche Auswahl, auf dem Kampf um das Dasein beruhend, ist an
sich ein negircndes, gewissermaßen kritisirendcs Moment; das positiv Schöpferische
liegt in der freiwilligen Variation mit der Fähigkeit, die alten und neuen
Eigenschaften zusammen zu vererben. Jede neu entstehende Art von Pflanzen
und Thieren wird das Wesentliche ihres Baues der früheren Urform verdanken,
aus der sie sich hervorbildete, ihre Adaptationen aber verdankt sie der Varie¬
tätenbildung und der natürlichen Auswahl. Da sich nun aus einer früher
vorhandenen Form neue Varietäten und später neue charakteristische, bestands¬
fähige Formen in sehr verschiedener Richtung entwickeln können, so wird es
nothwendig kommen, daß endlich eine größere Zahl ganz verschieden adaptirter
Arten sich finden, deren wesentliche morphologische Eigenschaften dennoch über-
einstimmen. Auf diese Art wird es sich erklären, warum ein Pferdefuß, ein
Elcphantenfuß. der Grabfuß des Maulwurfs, die Hand des Affen, der Flügel
der Fledermaus, obgleich so verschieden in Ansehen und Gebrauch, dennoch we¬
sentlich denselben Bau zeigen, wenn man mit Darwin annimmt, daß diese
Thierformen sämmtlich aus einer gemeinsamen Urform, die in einem früheren
geologischen Zeitalter existirte, durch Ausartung entstanden sind. Daß der Grab¬
fuß einer Maulwurfsgrille im Gebrauch mit dem entsprechenden Organe des
Maulwurfs übereinstimmt, während jeder nach einem völlig verschiedenen Plane
gebaut ist, wird dadurch zu erklären sein, daß beide Thierformen ursprünglich
aus ganz verschiedenen Urformen sich durch ähnliche Adaptation entwickelt ha¬
ben. Das darwinsche Princip der natürlichen Auswahl ist im Stande, das
große Problem des Dualismus im Bau der Organismen durchaus genügend zu
erklären, sobald wir der Ausartung und somit der Thätigkeit der natürlichen
Auswahl keine zu engen Grenzen setzen. Wo aber liegt hier die Grenze?
gibt es überhaupt eine Grenze für diese Processe? Es fehlt gegenwärtig an
hinreichenden Argumenten für das Ja wie für das Nein, und es ist eine auf
unvollkommener Beobachtung und noch unvollkommenerer Erwägung beruhend-
Behauptung von Seiten der Gegner, daß die Grenzen der Variationen sehr eng
gezogen seien und den Zwischenraum, der zwei sogenannte Species trennt,
niemals überschreiten.

Darwins Theorie hat einen mehr oder minder hohen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit in sich, je nach dem Umfang, in welchem man ihre Consequenzen
anwendet. Da sich das Hauptproblem, der Dualismus in der Organisation,


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[0313] und sonstigen Bedingungen der Existenz zusammen; zahlreiche europäische Pflan¬ zen haben sich in Amerika verbreitet, und umgekehrt; die Pferde der Spanier fanden in Südamerika Bedingungen ihres Gedeihens, wie nirgend anders wo. Diese Thatsachen erklären sich sehr einfach aus Darwins Theorie, sie sind un¬ erklärlich nach der Hypothese constanter Formen, welche besonders erschaffen und jedesmal für die Wohnorte adaptirt wurden. Die natürliche Auswahl, auf dem Kampf um das Dasein beruhend, ist an sich ein negircndes, gewissermaßen kritisirendcs Moment; das positiv Schöpferische liegt in der freiwilligen Variation mit der Fähigkeit, die alten und neuen Eigenschaften zusammen zu vererben. Jede neu entstehende Art von Pflanzen und Thieren wird das Wesentliche ihres Baues der früheren Urform verdanken, aus der sie sich hervorbildete, ihre Adaptationen aber verdankt sie der Varie¬ tätenbildung und der natürlichen Auswahl. Da sich nun aus einer früher vorhandenen Form neue Varietäten und später neue charakteristische, bestands¬ fähige Formen in sehr verschiedener Richtung entwickeln können, so wird es nothwendig kommen, daß endlich eine größere Zahl ganz verschieden adaptirter Arten sich finden, deren wesentliche morphologische Eigenschaften dennoch über- einstimmen. Auf diese Art wird es sich erklären, warum ein Pferdefuß, ein Elcphantenfuß. der Grabfuß des Maulwurfs, die Hand des Affen, der Flügel der Fledermaus, obgleich so verschieden in Ansehen und Gebrauch, dennoch we¬ sentlich denselben Bau zeigen, wenn man mit Darwin annimmt, daß diese Thierformen sämmtlich aus einer gemeinsamen Urform, die in einem früheren geologischen Zeitalter existirte, durch Ausartung entstanden sind. Daß der Grab¬ fuß einer Maulwurfsgrille im Gebrauch mit dem entsprechenden Organe des Maulwurfs übereinstimmt, während jeder nach einem völlig verschiedenen Plane gebaut ist, wird dadurch zu erklären sein, daß beide Thierformen ursprünglich aus ganz verschiedenen Urformen sich durch ähnliche Adaptation entwickelt ha¬ ben. Das darwinsche Princip der natürlichen Auswahl ist im Stande, das große Problem des Dualismus im Bau der Organismen durchaus genügend zu erklären, sobald wir der Ausartung und somit der Thätigkeit der natürlichen Auswahl keine zu engen Grenzen setzen. Wo aber liegt hier die Grenze? gibt es überhaupt eine Grenze für diese Processe? Es fehlt gegenwärtig an hinreichenden Argumenten für das Ja wie für das Nein, und es ist eine auf unvollkommener Beobachtung und noch unvollkommenerer Erwägung beruhend- Behauptung von Seiten der Gegner, daß die Grenzen der Variationen sehr eng gezogen seien und den Zwischenraum, der zwei sogenannte Species trennt, niemals überschreiten. Darwins Theorie hat einen mehr oder minder hohen Grad von Wahr¬ scheinlichkeit in sich, je nach dem Umfang, in welchem man ihre Consequenzen anwendet. Da sich das Hauptproblem, der Dualismus in der Organisation, Grenzboten III. 1S63. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/313>, abgerufen am 28.07.2024.