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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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oft durch undenkbar große Zeiträume getrennt, sind zwar verschieden, aber die
typischen Eigenschaften früherer Formen kehrten in den späteren wieder, die
Unterschiede waren keine absoluten, sondern nur graduelle, ein Band morpho¬
logischer Verwandtschaft schlang sich von den ersten Anfängen organischen Le¬
bens durch seine verschiedenen Gestaltungen hindurch bis auf die gegenwärtige
Zeit ^'zugleich zeigte es sich, daß von seinen ersten Anfängen an das organische
Leben durch den Wechsel der Zeiten hindurch immerfort an Mannigfaltigkeit
zunahm, daß es vom Einfacheren, minder Vollkommenen zum Complicirteren
und Vollkommenerer fortschritt. Wie sollte die Hypothese der Constanz der
organischen Formen diese und zahlreiche andere Thatsachen erklären? Die Ver¬
suche, welche in dieser Richtung gemacht wurden, z, B. von Agassiz, haben
schlagend dargethan, daß mit der Annahme der Stabilität nichts anzufangen
ist; es bedürfte nur der Entwickelung der Consequenzen dieser Hypothese, um
ihre völlige Haltlosigkeit zu zeigen. Es mag der Zukunft überlassen bleiben,
ob die Annahme der Starrheit der organischen Formen mit ihrer Hypothese
oft wiederholter plötzlicher Schöpfungen noch einmal eine wissenschaftliche
Form anzunehmen im Stande ist. Unendlich wahrscheinlicher ist. daß die
Zukunft der entgegengesetzten Ansicht gehört. Charles Darwin hat die Ver¬
änderlichkeit der Arten wieder ausgenommen, sie neu begründet, ihre Con¬
sequenzen in allen Richtungen zu einem wissenschaftlichen System entwickelt. In
seinem Buche "0v ete origin ok speciss dz^ means ok "atural stzleetion or
tue xröSörvatiou ok tavoureä i-anch in ete struZZI" lor ins" (1860) liefert
er zuerst den Nachweis, daß thatsächlich die Veränderlichkeit der organischen
Formen im Lauf der Generationen eine viel weiter gehende ist, als den Ver¬
theidigern der Stabilität lieb sein kann. Von den wohl constatirten Fällen
ausgehend, weist er auf zahlreiche Thatsachen hin, welche die Annahme der
Variabilität und Erblichkeit der Varietäten gebieterisch fordern, zeigt, daß der
Unterschied zwischen Species und Varietät, den die meisten Systematiker für
einen absoluten gehalten hatten, ein gradueller und daß die Definition der
Species, wie sie bisher gegeben wurde, logisch unbrauchbar ist. Dagegen
stellt er eine reiche Sammlung der merkwürdigsten Thatsachen zusammen, welche
sich mit der Annahme der Veränderlichkeit der organischen Formen einfach er¬
klären, mit der gegentheiligen Ansicht völlig räthselhaft bleiben. Eines seiner
wesentlichsten Verdienste liegt in dem Nachweise, wie äußerst unbedeutende Ab¬
änderungen sich von Generation zu Generation accumuliren müssen, wie nur
bestimmte Varietäten sich erhalten und vor Allem, auf welche Art eine bestän¬
dige Steigerung in Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit der Organismen
zu Stande kommt. Wenn seine Lehre in einigen wesentlichen Punkten mit der
Lamarcks übereinstimmt, so unterscheidet sie sich doch wesentlich durch die Be¬
weisführung; diese ist ihm so eigenthümlich, so neu, seine Auffassung der gan-


oft durch undenkbar große Zeiträume getrennt, sind zwar verschieden, aber die
typischen Eigenschaften früherer Formen kehrten in den späteren wieder, die
Unterschiede waren keine absoluten, sondern nur graduelle, ein Band morpho¬
logischer Verwandtschaft schlang sich von den ersten Anfängen organischen Le¬
bens durch seine verschiedenen Gestaltungen hindurch bis auf die gegenwärtige
Zeit ^'zugleich zeigte es sich, daß von seinen ersten Anfängen an das organische
Leben durch den Wechsel der Zeiten hindurch immerfort an Mannigfaltigkeit
zunahm, daß es vom Einfacheren, minder Vollkommenen zum Complicirteren
und Vollkommenerer fortschritt. Wie sollte die Hypothese der Constanz der
organischen Formen diese und zahlreiche andere Thatsachen erklären? Die Ver¬
suche, welche in dieser Richtung gemacht wurden, z, B. von Agassiz, haben
schlagend dargethan, daß mit der Annahme der Stabilität nichts anzufangen
ist; es bedürfte nur der Entwickelung der Consequenzen dieser Hypothese, um
ihre völlige Haltlosigkeit zu zeigen. Es mag der Zukunft überlassen bleiben,
ob die Annahme der Starrheit der organischen Formen mit ihrer Hypothese
oft wiederholter plötzlicher Schöpfungen noch einmal eine wissenschaftliche
Form anzunehmen im Stande ist. Unendlich wahrscheinlicher ist. daß die
Zukunft der entgegengesetzten Ansicht gehört. Charles Darwin hat die Ver¬
änderlichkeit der Arten wieder ausgenommen, sie neu begründet, ihre Con¬
sequenzen in allen Richtungen zu einem wissenschaftlichen System entwickelt. In
seinem Buche „0v ete origin ok speciss dz^ means ok »atural stzleetion or
tue xröSörvatiou ok tavoureä i-anch in ete struZZI« lor ins" (1860) liefert
er zuerst den Nachweis, daß thatsächlich die Veränderlichkeit der organischen
Formen im Lauf der Generationen eine viel weiter gehende ist, als den Ver¬
theidigern der Stabilität lieb sein kann. Von den wohl constatirten Fällen
ausgehend, weist er auf zahlreiche Thatsachen hin, welche die Annahme der
Variabilität und Erblichkeit der Varietäten gebieterisch fordern, zeigt, daß der
Unterschied zwischen Species und Varietät, den die meisten Systematiker für
einen absoluten gehalten hatten, ein gradueller und daß die Definition der
Species, wie sie bisher gegeben wurde, logisch unbrauchbar ist. Dagegen
stellt er eine reiche Sammlung der merkwürdigsten Thatsachen zusammen, welche
sich mit der Annahme der Veränderlichkeit der organischen Formen einfach er¬
klären, mit der gegentheiligen Ansicht völlig räthselhaft bleiben. Eines seiner
wesentlichsten Verdienste liegt in dem Nachweise, wie äußerst unbedeutende Ab¬
änderungen sich von Generation zu Generation accumuliren müssen, wie nur
bestimmte Varietäten sich erhalten und vor Allem, auf welche Art eine bestän¬
dige Steigerung in Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit der Organismen
zu Stande kommt. Wenn seine Lehre in einigen wesentlichen Punkten mit der
Lamarcks übereinstimmt, so unterscheidet sie sich doch wesentlich durch die Be¬
weisführung; diese ist ihm so eigenthümlich, so neu, seine Auffassung der gan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/308>, abgerufen am 28.07.2024.