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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Fortkriechen das Bedürfniß fühlt, die vor ihm liegenden Körper zu betasten,
Anstrengungen macht, dieselben mit seinem vordersten Kopftheil zu berühren;
dadurch strömen die plastischen Nährflüssigkeiten an jene Punkte, und so wachsen
endlich zwei oder vier Tentakeln Kervor. Es ist klar, daß, wenn diese Möglich¬
keit factisch bestände, dadurch dennoch nur ein kleiner Theil der organischen
Mannigfaltigkeit sich erklären ließe. Die Pflanzen haben ohnehin an diesem
Vorgang keinen Theil, obgleich bei ihnen die zu lösende Frage genau dieselbe
ist, wie bei den Thieren; und im Grunde genommen legt Lamarck die Frage
nur etwas weiter zurück, statt sie zu beantworten; denn er sollte billig Auskunft
darüber geben, auf welche Weise in einem Thier der Wunsch entsteht, etwas
zu thun, wovon es bis dahin keine Ahnung hatte; die Entstehung einer neuen
geistigen Regung ist offenbar ein mindestens ebenso schwieriges Problem, wie
die eines neuen Organs. Sein drittes Gesetz, wonach die Organe beständig
im Verhältniß zu dem davon gemachten Gebrauche stehen, drückt dasselbe aus,
was wir oben Adaptation nannten, läßt aber den morphologischen Dualismus
unberührt. Auf den rechten Weg aber kam er in dem Satze, Alles, was in der
Organisation des Individuums gewonnen oder angelegt oder geändert wurde,
wird durch die Fortpflanzung in den Nachkommen erhalten. Für all diese Vor¬
gänge nahm er große Zeiträume in Anspruch, sie finden so langsam statt, daß
die auftretenden Veränderungen nicht unmittelbar beobachtet werden können.

Während so Lamarck die Veränderungen, durch welche neue organische Formen
sich bilden, aus der Activität derselben ableitet, versuchte Gevffroi Se. Hilaire später
auch den modificirenden Einfluß der Umgebung auf die Organismen zur Geltung zu
bringen. Doch gelang es ihm ebensowenig wie Lamarck, seinen Beweisführungenden
Charakter der zwingenden, überzeugenden Kraft und Allgcmeingiltigkeit zu geben.
Allerdings würde die beständige Ausartung und Vererbung der neuen Eigenschaften
auf die Nachkommen zugleich die typische Uebereinstimmung bei der mannigfaltigen
Anpassung der einzelnen Formen innerhalb eines'gegebenen Typus bis zu einem
gewissen Grade erklären, aber Vieles bliebe doch noch unerklärt, und zumal fehlt
es an einem zwingenden Grunde für die Nothwendigkeit der fortschreitenden
Vervollkommnung der organischen Welt in der Zeit; denn wenn man dem
Einfluß der Elemente und des lamarckschen Bildungstriebes einen noch so
großen Spielraum gestattet, so erhalten wir wohl eine Mannigfaltigkeit der
Formen, aber das beständige Aufstreben zu vollkommeneren Organisationen, wie
es sich in der paläontologischen Reihenfolge geltend macht, bleibt unerklärt.
Man kann das Gute in Lamarcss Theorie durchaus anerkennen, man muß das
kühne Vertrauen ehren, womit er an die Lösung eines der großartigsten Pro¬
bleme herantritt mit der Ueberzeugung, daß die Annahme eingcschobener Wun¬
der im Gang der einmal bestehenden Naturgesetze von der Wissenschaft absolut
fern gehalten werden müsse; allein seine Beweise waren selbst damals zu locker


Fortkriechen das Bedürfniß fühlt, die vor ihm liegenden Körper zu betasten,
Anstrengungen macht, dieselben mit seinem vordersten Kopftheil zu berühren;
dadurch strömen die plastischen Nährflüssigkeiten an jene Punkte, und so wachsen
endlich zwei oder vier Tentakeln Kervor. Es ist klar, daß, wenn diese Möglich¬
keit factisch bestände, dadurch dennoch nur ein kleiner Theil der organischen
Mannigfaltigkeit sich erklären ließe. Die Pflanzen haben ohnehin an diesem
Vorgang keinen Theil, obgleich bei ihnen die zu lösende Frage genau dieselbe
ist, wie bei den Thieren; und im Grunde genommen legt Lamarck die Frage
nur etwas weiter zurück, statt sie zu beantworten; denn er sollte billig Auskunft
darüber geben, auf welche Weise in einem Thier der Wunsch entsteht, etwas
zu thun, wovon es bis dahin keine Ahnung hatte; die Entstehung einer neuen
geistigen Regung ist offenbar ein mindestens ebenso schwieriges Problem, wie
die eines neuen Organs. Sein drittes Gesetz, wonach die Organe beständig
im Verhältniß zu dem davon gemachten Gebrauche stehen, drückt dasselbe aus,
was wir oben Adaptation nannten, läßt aber den morphologischen Dualismus
unberührt. Auf den rechten Weg aber kam er in dem Satze, Alles, was in der
Organisation des Individuums gewonnen oder angelegt oder geändert wurde,
wird durch die Fortpflanzung in den Nachkommen erhalten. Für all diese Vor¬
gänge nahm er große Zeiträume in Anspruch, sie finden so langsam statt, daß
die auftretenden Veränderungen nicht unmittelbar beobachtet werden können.

Während so Lamarck die Veränderungen, durch welche neue organische Formen
sich bilden, aus der Activität derselben ableitet, versuchte Gevffroi Se. Hilaire später
auch den modificirenden Einfluß der Umgebung auf die Organismen zur Geltung zu
bringen. Doch gelang es ihm ebensowenig wie Lamarck, seinen Beweisführungenden
Charakter der zwingenden, überzeugenden Kraft und Allgcmeingiltigkeit zu geben.
Allerdings würde die beständige Ausartung und Vererbung der neuen Eigenschaften
auf die Nachkommen zugleich die typische Uebereinstimmung bei der mannigfaltigen
Anpassung der einzelnen Formen innerhalb eines'gegebenen Typus bis zu einem
gewissen Grade erklären, aber Vieles bliebe doch noch unerklärt, und zumal fehlt
es an einem zwingenden Grunde für die Nothwendigkeit der fortschreitenden
Vervollkommnung der organischen Welt in der Zeit; denn wenn man dem
Einfluß der Elemente und des lamarckschen Bildungstriebes einen noch so
großen Spielraum gestattet, so erhalten wir wohl eine Mannigfaltigkeit der
Formen, aber das beständige Aufstreben zu vollkommeneren Organisationen, wie
es sich in der paläontologischen Reihenfolge geltend macht, bleibt unerklärt.
Man kann das Gute in Lamarcss Theorie durchaus anerkennen, man muß das
kühne Vertrauen ehren, womit er an die Lösung eines der großartigsten Pro¬
bleme herantritt mit der Ueberzeugung, daß die Annahme eingcschobener Wun¬
der im Gang der einmal bestehenden Naturgesetze von der Wissenschaft absolut
fern gehalten werden müsse; allein seine Beweise waren selbst damals zu locker


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/306>, abgerufen am 28.07.2024.