Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

stehen in gegebenen Verhältnissen bestimmt ist, konnte man es wohl noch be^
greiflich finden, daß die Lebensformen den Bedingungen, unter denen sie sich
finden, so genau angepaßt sind, obwohl diese Anpassung keineswegs eine so
durchaus vollendete ist, wie sie von den Anhängern dieser Ansicht dargestellt
zu werden pflegt. Allein vollständig unbegreiflich bleibt es dann, warum Tau¬
sende verschiedener Thiere, die den allerverschiedensten Lebensverhältnissen an¬
gepaßt sind, dennoch etwas Gemeinsames in ihrer Organisation besitzen, dessen
Existenz sür die Zwecke des Daseins durchaus entbehrlich erscheint. Die An¬
hänger der Ansicht, daß jede "Species" besonders erschaffen und in ihrer Form
stabil sei, sind in der That nicht im Stande gewesen, Rechenschaft von der
Nothwendigkeit jenes Dualismus im Bau der Organismen zu geben; denn es
ist keine Erklärung, zu sagen, die morphologischen Uebereinstimmungen verschie¬
den adaptirter Organismen repräsentiren uns den Schöpfungsplan; vielmehr
ist eben dieses das Problem; und gerade in diesem Problem, dessen Vorhan¬
densein zwar sich von selbst jedem in dunkler Ahnung aufdrängt, aber selten
klar aufgefaßt wurde, liegt das mächtig Anziehende und Anregende im Studium
der Naturgeschichte, und dies um so mehr, als die Fragen nach der Ursache
der räumlichen und zeitlichen Vertheilung der Pflanzen und Thiere, wie sie die
Geographie der Organismen und die Paläontologie lehrt, aufs innigste damit
zusammenhängen. Die Wenigen, welche es bisher versucht haben, von diesem
Dualismus, oder der "Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie man es gern in
der deutschen Schule der Naturphilosophen nannte. Rechenschaft zu geben, haben
sämmtlich gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen; statt der Stabilität
der Formen statuirten sie eine unbegrenzte, aber äußerst langsame Umgestal¬
tung derselben, statt der plötzlichen Erschaffung jeder einzelnen Art verlangten
sie eine langsame Heranbildung der vollkommeneren Lebensformen aus den ein¬
facheren; statt der berechneten Anpassung der Organe an die Bedingungen der
Existenz stellten sie einen nothwendigen Proceß hin, der unbewußt schaffend das
Passende erhielt, das Unpassende untergehen ließ. Die Lösung unseres
Problems ist mit sehr verschiedenem Glück versucht worden. Die erste weit-
läufiger ausgearbeitete Theorie in dieser Richtung ersann Lamarck. In seiner
1813 erschienenen lüstoir" dös arümaux saris ohl'löbl'of (Bd. I.) versuchte er
zunächst, die erste Entstehung eines belebten Wesens einfachster Construction
zu demonstriren, er ließ das Leben als eine Folge besonderer Combinationen
der damals bekannten attractiven und repulsiven Kräfte auftreten. Diesen Ur-
organismus begabte er mit der unbegrenzten Fähigkeit, sich langsam im Laufe
der Generationen weiter auszubilden. Die Production neuer Organe an einem
animalischen Körper entspringt nach ihm aus einem neu auftretenden und dann
beständig gefühlten Bedürfniß, eine gewisse Handlung auszuführen, zu welcher
das Organ noch fehlt; er begreife, sagt er, daß ein Gasteropode, der bei seinem


Grenzboten III. 1S63. 38

stehen in gegebenen Verhältnissen bestimmt ist, konnte man es wohl noch be^
greiflich finden, daß die Lebensformen den Bedingungen, unter denen sie sich
finden, so genau angepaßt sind, obwohl diese Anpassung keineswegs eine so
durchaus vollendete ist, wie sie von den Anhängern dieser Ansicht dargestellt
zu werden pflegt. Allein vollständig unbegreiflich bleibt es dann, warum Tau¬
sende verschiedener Thiere, die den allerverschiedensten Lebensverhältnissen an¬
gepaßt sind, dennoch etwas Gemeinsames in ihrer Organisation besitzen, dessen
Existenz sür die Zwecke des Daseins durchaus entbehrlich erscheint. Die An¬
hänger der Ansicht, daß jede „Species" besonders erschaffen und in ihrer Form
stabil sei, sind in der That nicht im Stande gewesen, Rechenschaft von der
Nothwendigkeit jenes Dualismus im Bau der Organismen zu geben; denn es
ist keine Erklärung, zu sagen, die morphologischen Uebereinstimmungen verschie¬
den adaptirter Organismen repräsentiren uns den Schöpfungsplan; vielmehr
ist eben dieses das Problem; und gerade in diesem Problem, dessen Vorhan¬
densein zwar sich von selbst jedem in dunkler Ahnung aufdrängt, aber selten
klar aufgefaßt wurde, liegt das mächtig Anziehende und Anregende im Studium
der Naturgeschichte, und dies um so mehr, als die Fragen nach der Ursache
der räumlichen und zeitlichen Vertheilung der Pflanzen und Thiere, wie sie die
Geographie der Organismen und die Paläontologie lehrt, aufs innigste damit
zusammenhängen. Die Wenigen, welche es bisher versucht haben, von diesem
Dualismus, oder der „Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie man es gern in
der deutschen Schule der Naturphilosophen nannte. Rechenschaft zu geben, haben
sämmtlich gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen; statt der Stabilität
der Formen statuirten sie eine unbegrenzte, aber äußerst langsame Umgestal¬
tung derselben, statt der plötzlichen Erschaffung jeder einzelnen Art verlangten
sie eine langsame Heranbildung der vollkommeneren Lebensformen aus den ein¬
facheren; statt der berechneten Anpassung der Organe an die Bedingungen der
Existenz stellten sie einen nothwendigen Proceß hin, der unbewußt schaffend das
Passende erhielt, das Unpassende untergehen ließ. Die Lösung unseres
Problems ist mit sehr verschiedenem Glück versucht worden. Die erste weit-
läufiger ausgearbeitete Theorie in dieser Richtung ersann Lamarck. In seiner
1813 erschienenen lüstoir« dös arümaux saris ohl'löbl'of (Bd. I.) versuchte er
zunächst, die erste Entstehung eines belebten Wesens einfachster Construction
zu demonstriren, er ließ das Leben als eine Folge besonderer Combinationen
der damals bekannten attractiven und repulsiven Kräfte auftreten. Diesen Ur-
organismus begabte er mit der unbegrenzten Fähigkeit, sich langsam im Laufe
der Generationen weiter auszubilden. Die Production neuer Organe an einem
animalischen Körper entspringt nach ihm aus einem neu auftretenden und dann
beständig gefühlten Bedürfniß, eine gewisse Handlung auszuführen, zu welcher
das Organ noch fehlt; er begreife, sagt er, daß ein Gasteropode, der bei seinem


Grenzboten III. 1S63. 38
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115697"/>
            <p xml:id="ID_841" prev="#ID_840" next="#ID_842"> stehen in gegebenen Verhältnissen bestimmt ist, konnte man es wohl noch be^<lb/>
greiflich finden, daß die Lebensformen den Bedingungen, unter denen sie sich<lb/>
finden, so genau angepaßt sind, obwohl diese Anpassung keineswegs eine so<lb/>
durchaus vollendete ist, wie sie von den Anhängern dieser Ansicht dargestellt<lb/>
zu werden pflegt. Allein vollständig unbegreiflich bleibt es dann, warum Tau¬<lb/>
sende verschiedener Thiere, die den allerverschiedensten Lebensverhältnissen an¬<lb/>
gepaßt sind, dennoch etwas Gemeinsames in ihrer Organisation besitzen, dessen<lb/>
Existenz sür die Zwecke des Daseins durchaus entbehrlich erscheint. Die An¬<lb/>
hänger der Ansicht, daß jede &#x201E;Species" besonders erschaffen und in ihrer Form<lb/>
stabil sei, sind in der That nicht im Stande gewesen, Rechenschaft von der<lb/>
Nothwendigkeit jenes Dualismus im Bau der Organismen zu geben; denn es<lb/>
ist keine Erklärung, zu sagen, die morphologischen Uebereinstimmungen verschie¬<lb/>
den adaptirter Organismen repräsentiren uns den Schöpfungsplan; vielmehr<lb/>
ist eben dieses das Problem; und gerade in diesem Problem, dessen Vorhan¬<lb/>
densein zwar sich von selbst jedem in dunkler Ahnung aufdrängt, aber selten<lb/>
klar aufgefaßt wurde, liegt das mächtig Anziehende und Anregende im Studium<lb/>
der Naturgeschichte, und dies um so mehr, als die Fragen nach der Ursache<lb/>
der räumlichen und zeitlichen Vertheilung der Pflanzen und Thiere, wie sie die<lb/>
Geographie der Organismen und die Paläontologie lehrt, aufs innigste damit<lb/>
zusammenhängen. Die Wenigen, welche es bisher versucht haben, von diesem<lb/>
Dualismus, oder der &#x201E;Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie man es gern in<lb/>
der deutschen Schule der Naturphilosophen nannte. Rechenschaft zu geben, haben<lb/>
sämmtlich gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen; statt der Stabilität<lb/>
der Formen statuirten sie eine unbegrenzte, aber äußerst langsame Umgestal¬<lb/>
tung derselben, statt der plötzlichen Erschaffung jeder einzelnen Art verlangten<lb/>
sie eine langsame Heranbildung der vollkommeneren Lebensformen aus den ein¬<lb/>
facheren; statt der berechneten Anpassung der Organe an die Bedingungen der<lb/>
Existenz stellten sie einen nothwendigen Proceß hin, der unbewußt schaffend das<lb/>
Passende erhielt, das Unpassende untergehen ließ. Die Lösung unseres<lb/>
Problems ist mit sehr verschiedenem Glück versucht worden. Die erste weit-<lb/>
läufiger ausgearbeitete Theorie in dieser Richtung ersann Lamarck. In seiner<lb/>
1813 erschienenen lüstoir« dös arümaux saris ohl'löbl'of (Bd. I.) versuchte er<lb/>
zunächst, die erste Entstehung eines belebten Wesens einfachster Construction<lb/>
zu demonstriren, er ließ das Leben als eine Folge besonderer Combinationen<lb/>
der damals bekannten attractiven und repulsiven Kräfte auftreten. Diesen Ur-<lb/>
organismus begabte er mit der unbegrenzten Fähigkeit, sich langsam im Laufe<lb/>
der Generationen weiter auszubilden. Die Production neuer Organe an einem<lb/>
animalischen Körper entspringt nach ihm aus einem neu auftretenden und dann<lb/>
beständig gefühlten Bedürfniß, eine gewisse Handlung auszuführen, zu welcher<lb/>
das Organ noch fehlt; er begreife, sagt er, daß ein Gasteropode, der bei seinem</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1S63. 38</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] stehen in gegebenen Verhältnissen bestimmt ist, konnte man es wohl noch be^ greiflich finden, daß die Lebensformen den Bedingungen, unter denen sie sich finden, so genau angepaßt sind, obwohl diese Anpassung keineswegs eine so durchaus vollendete ist, wie sie von den Anhängern dieser Ansicht dargestellt zu werden pflegt. Allein vollständig unbegreiflich bleibt es dann, warum Tau¬ sende verschiedener Thiere, die den allerverschiedensten Lebensverhältnissen an¬ gepaßt sind, dennoch etwas Gemeinsames in ihrer Organisation besitzen, dessen Existenz sür die Zwecke des Daseins durchaus entbehrlich erscheint. Die An¬ hänger der Ansicht, daß jede „Species" besonders erschaffen und in ihrer Form stabil sei, sind in der That nicht im Stande gewesen, Rechenschaft von der Nothwendigkeit jenes Dualismus im Bau der Organismen zu geben; denn es ist keine Erklärung, zu sagen, die morphologischen Uebereinstimmungen verschie¬ den adaptirter Organismen repräsentiren uns den Schöpfungsplan; vielmehr ist eben dieses das Problem; und gerade in diesem Problem, dessen Vorhan¬ densein zwar sich von selbst jedem in dunkler Ahnung aufdrängt, aber selten klar aufgefaßt wurde, liegt das mächtig Anziehende und Anregende im Studium der Naturgeschichte, und dies um so mehr, als die Fragen nach der Ursache der räumlichen und zeitlichen Vertheilung der Pflanzen und Thiere, wie sie die Geographie der Organismen und die Paläontologie lehrt, aufs innigste damit zusammenhängen. Die Wenigen, welche es bisher versucht haben, von diesem Dualismus, oder der „Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie man es gern in der deutschen Schule der Naturphilosophen nannte. Rechenschaft zu geben, haben sämmtlich gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen; statt der Stabilität der Formen statuirten sie eine unbegrenzte, aber äußerst langsame Umgestal¬ tung derselben, statt der plötzlichen Erschaffung jeder einzelnen Art verlangten sie eine langsame Heranbildung der vollkommeneren Lebensformen aus den ein¬ facheren; statt der berechneten Anpassung der Organe an die Bedingungen der Existenz stellten sie einen nothwendigen Proceß hin, der unbewußt schaffend das Passende erhielt, das Unpassende untergehen ließ. Die Lösung unseres Problems ist mit sehr verschiedenem Glück versucht worden. Die erste weit- läufiger ausgearbeitete Theorie in dieser Richtung ersann Lamarck. In seiner 1813 erschienenen lüstoir« dös arümaux saris ohl'löbl'of (Bd. I.) versuchte er zunächst, die erste Entstehung eines belebten Wesens einfachster Construction zu demonstriren, er ließ das Leben als eine Folge besonderer Combinationen der damals bekannten attractiven und repulsiven Kräfte auftreten. Diesen Ur- organismus begabte er mit der unbegrenzten Fähigkeit, sich langsam im Laufe der Generationen weiter auszubilden. Die Production neuer Organe an einem animalischen Körper entspringt nach ihm aus einem neu auftretenden und dann beständig gefühlten Bedürfniß, eine gewisse Handlung auszuführen, zu welcher das Organ noch fehlt; er begreife, sagt er, daß ein Gasteropode, der bei seinem Grenzboten III. 1S63. 38

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/305>, abgerufen am 23.12.2024.