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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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seinem Wechselchen ein. Am Verfalltage erfolgt keine Zahlung; es wird prolon-
girt und wieder prolongirt, und endlich verschwindet eines Tages der Besitzer mit
Hinterlassung einer ungeheuren Schuldenmasse, um später bei den Piemontesen oder
Türken wieder aufzutauchen. Die Gläubiger fallen über den Grundbesitz und über
das faßbare Vermögen her, und auf dem Subhostationstermin ist es ein deut¬
scher Amtmann oder Güterspeculant, der den leergewordenen Sitz des polnischen
Herren einnimmt. Das ist eine Geschichte, die sich trotz aller Bestrebungen
reicher und patriotischer Polen immer wiederholt, eine Geschichte, die wir täg¬
lich mit eigenen Augen sich entwickeln sehen oder die wir uns von den Herren
mit den morgenländischen Gesichtern auf der ambulanten Börse der Wilhelm-
straße erzählen lassen können.

Massenhaft hat im vorigen Jahrhundert deutsche Einwanderung statt¬
gefunden. Wir finden bis weit über die heutigen russisch-polnischen Grenzen
hinaus das Land bedeckt mit deutschen Kolonien*), die sich durch das an den
polnischen Dorfraum angehängte Wort "Hauland" oder durch deutsche Dorf-
"amen kennzeichnen. Nachdem Kriege und Seuchen das Land verödet und die
Bevölkerung heruntergebracht hatten, zogen die sächsischen Kurfürst-Könige aus
dem Voigtlande, überhaupt aus ihren deutschen Landestheilen Einwanderer
meist reformirten Glaubens hinüber, deren Nachkommen auch heut noch zähe
an deutscher Sprache, Tracht und Sitte festhalten. Sie leben in Frieden mit
ihren Nachbarn, den Landleuten polnischer Nationalität, sind aber, weil treue
Unterthanen der Regierung, dem polnischen Edelmann ein Dorn im Auge,
und werden von der geheimen Nationalregierung schwer bedrängt und besteuert.

Nicht blos in seiner politischen Anschauungsweise, sondern auch im Blute
findet ein wesentlicher Unterschied zwischen dem polnischen Landvolk und dem
Adel statt. Ersteres gehört jenen slavischen Urstämmen an, die schon im sechsten
Jahrhundert, aus dem Südosten kommend, das Land überschwemmten, theils
die darin sitzenden Finnen vor sich her trieben, theils sich mit den Zurückblei¬
benden vermischten. Fast zweihundert Jahre später folgte ein anderer slavischer
Stamm, die Lachen, gleichen Ursprungs mit den Kosaken, der sich erobernd
und als Herren im Lande festsetzte, höhere Civilisations- und Culturfähigkeit
mitbrachte, sich dem Christenthum zuwandte, die Unterjochten aber in skla¬
vischer Unterthänigkeit hielt. Fast ein Jahrtausend vermochte sich das Ver¬
hältniß zwischen Herren und Leibeigenen zu halten, bis mit der preußischen



*) Diese Colonien ziehen sich, besonders! dicht gruppirt an der Weichsel, von Bromberg
bis nach Warschau hui! auch um die Fabrikstadt Lodz, welche als Centralpunkt der deutscheu
Ansiedelungen in Polen anzusehen ist, liegen zahlreiche deutsche Ortschaften, und der ganze
Westen von Russisch-Polen bis auf 30 bis 40 Meilen ins Land hinein ist in einem Maße
mit vorwiegend deutschen Dörfern und Städtchen besäet, wie man schwerlich vermuthet Im
.
D. Red. Ganzen wohnen in Congreßpolen mindestens 2S0.000 Deutsche.

seinem Wechselchen ein. Am Verfalltage erfolgt keine Zahlung; es wird prolon-
girt und wieder prolongirt, und endlich verschwindet eines Tages der Besitzer mit
Hinterlassung einer ungeheuren Schuldenmasse, um später bei den Piemontesen oder
Türken wieder aufzutauchen. Die Gläubiger fallen über den Grundbesitz und über
das faßbare Vermögen her, und auf dem Subhostationstermin ist es ein deut¬
scher Amtmann oder Güterspeculant, der den leergewordenen Sitz des polnischen
Herren einnimmt. Das ist eine Geschichte, die sich trotz aller Bestrebungen
reicher und patriotischer Polen immer wiederholt, eine Geschichte, die wir täg¬
lich mit eigenen Augen sich entwickeln sehen oder die wir uns von den Herren
mit den morgenländischen Gesichtern auf der ambulanten Börse der Wilhelm-
straße erzählen lassen können.

Massenhaft hat im vorigen Jahrhundert deutsche Einwanderung statt¬
gefunden. Wir finden bis weit über die heutigen russisch-polnischen Grenzen
hinaus das Land bedeckt mit deutschen Kolonien*), die sich durch das an den
polnischen Dorfraum angehängte Wort „Hauland" oder durch deutsche Dorf-
»amen kennzeichnen. Nachdem Kriege und Seuchen das Land verödet und die
Bevölkerung heruntergebracht hatten, zogen die sächsischen Kurfürst-Könige aus
dem Voigtlande, überhaupt aus ihren deutschen Landestheilen Einwanderer
meist reformirten Glaubens hinüber, deren Nachkommen auch heut noch zähe
an deutscher Sprache, Tracht und Sitte festhalten. Sie leben in Frieden mit
ihren Nachbarn, den Landleuten polnischer Nationalität, sind aber, weil treue
Unterthanen der Regierung, dem polnischen Edelmann ein Dorn im Auge,
und werden von der geheimen Nationalregierung schwer bedrängt und besteuert.

Nicht blos in seiner politischen Anschauungsweise, sondern auch im Blute
findet ein wesentlicher Unterschied zwischen dem polnischen Landvolk und dem
Adel statt. Ersteres gehört jenen slavischen Urstämmen an, die schon im sechsten
Jahrhundert, aus dem Südosten kommend, das Land überschwemmten, theils
die darin sitzenden Finnen vor sich her trieben, theils sich mit den Zurückblei¬
benden vermischten. Fast zweihundert Jahre später folgte ein anderer slavischer
Stamm, die Lachen, gleichen Ursprungs mit den Kosaken, der sich erobernd
und als Herren im Lande festsetzte, höhere Civilisations- und Culturfähigkeit
mitbrachte, sich dem Christenthum zuwandte, die Unterjochten aber in skla¬
vischer Unterthänigkeit hielt. Fast ein Jahrtausend vermochte sich das Ver¬
hältniß zwischen Herren und Leibeigenen zu halten, bis mit der preußischen



*) Diese Colonien ziehen sich, besonders! dicht gruppirt an der Weichsel, von Bromberg
bis nach Warschau hui! auch um die Fabrikstadt Lodz, welche als Centralpunkt der deutscheu
Ansiedelungen in Polen anzusehen ist, liegen zahlreiche deutsche Ortschaften, und der ganze
Westen von Russisch-Polen bis auf 30 bis 40 Meilen ins Land hinein ist in einem Maße
mit vorwiegend deutschen Dörfern und Städtchen besäet, wie man schwerlich vermuthet Im
.
D. Red. Ganzen wohnen in Congreßpolen mindestens 2S0.000 Deutsche.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/270>, abgerufen am 23.12.2024.