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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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nach der Straße zugekehrt, entgegen und manches alte Bauwerk erzählt uns
von einstiger Pracht und Herrlichkeit. Die Stadt wuchs durch deutsche Colo-
nisation zu bedeutendem Wohlstande empor, bis sie von 1576--1643 unter
den Herzogen Siegismund dem Dritten und Wladislaus dem Vierten mit 70
bis 80.000 Einwohnern ihren Kulminationspunkt erreichte.

Damals dehnte sich der posensche Handel über ganz Europa aus. Posen-
sche Kaufleute belebten die Handelsstraßen nach dem Ural und Kaukasus. Mit
der Hansa bestand eine innige Verbindung, und die Rolandsäule vor dem Rath¬
hause beweist uns, daß deutsches Recht und deutsche Sitte in der Stadt üblich
waren. Aber der blühende Handel wurde durch die Verwüstungen des dreißig¬
jährigen Krieges und durch die inneren Unruhen im Lande selbst gebrochen.
Im polnischen Reiche löste sich der Zusammenhang der lockeren Masse in Anar¬
chie auf. und schon um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wurden die
Thore der Stadt den Schweden geöffnet.

Damit kam eine Zeit ununterbrochenen Elends. 16S7 waren zum ersten
Male brandenburgische Truppen in der Stadt; sie plünderten und steckten mehre
Kirchen in Brand. Es folgte der nordische Krieg. Der schwedische General
Mardefeld nahm 1703 Posen mit Sturm, und im folgenden Jahre wurde es
sechs Wochen lang von Russen und Sachsen unter dem famosen Patkul ver¬
geblich belagert. Russen und Schweden suchten abwechselnd und immer mit
neuen Contributionen die Stadt heim; auch König Karl der Zwölfte war
wiederholt dort, und man zeigt am alten Markt noch das weit hervorragende
Schirmdach über einer Hausthür, auf welches der König einst aus dem darüber-
gelegenen Fenster während der Nachmittagsruhe hinabgefallen sein soll. Was
die kriegführenden Parteien übrig ließen, rafften Hungersnot!) und Seuchen
hinweg. Auch der altranstädter Frieden brachte keine besseren Zeiten, denn der
innere Zwist entbrannte mit neuer Wuth. 1710 waren die Sachsen in der
Stadt, welche von den Conföderirten gestürmt wurde, und 1723 erfolgte in¬
folge des schrodaer Landtagsschlusses die Austreibung der Evangelischen und
die Demolirung ihrer Kirche. Während des siebenjährigen Krieges litten Stadt
und Land furchtbar unter den Verheerungen der Russen, so daß, als beide
endlich in der zweiten Theilung Polens an Preußen kamen, die Einwohnerzahl
Posens aus etwa 8000 Menschen herabgekommen war. Kaum begann sie sich
allmälig zu erholen, so brachte der französische Krieg von 1806 bis 1807 neue
Drangsale. Napoleon hielt sich im Winter von 1806 zu 1807 längere Zeit
dort auf; am 11. December 1806 ward dort der Friede zwischen Frankreich,
Sachsen und den sächsischen Herzogtümern geschlossen. Wie elend damals noch
der Zustand der Stadt war, beweist, daß der weimarsche Gesandte Friedrich
v. Müller bei einer Fahrt zur Audienz in einem Kothloch der ungepflasierten
Straßen mit dem Wagen stecken blieb.


nach der Straße zugekehrt, entgegen und manches alte Bauwerk erzählt uns
von einstiger Pracht und Herrlichkeit. Die Stadt wuchs durch deutsche Colo-
nisation zu bedeutendem Wohlstande empor, bis sie von 1576—1643 unter
den Herzogen Siegismund dem Dritten und Wladislaus dem Vierten mit 70
bis 80.000 Einwohnern ihren Kulminationspunkt erreichte.

Damals dehnte sich der posensche Handel über ganz Europa aus. Posen-
sche Kaufleute belebten die Handelsstraßen nach dem Ural und Kaukasus. Mit
der Hansa bestand eine innige Verbindung, und die Rolandsäule vor dem Rath¬
hause beweist uns, daß deutsches Recht und deutsche Sitte in der Stadt üblich
waren. Aber der blühende Handel wurde durch die Verwüstungen des dreißig¬
jährigen Krieges und durch die inneren Unruhen im Lande selbst gebrochen.
Im polnischen Reiche löste sich der Zusammenhang der lockeren Masse in Anar¬
chie auf. und schon um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wurden die
Thore der Stadt den Schweden geöffnet.

Damit kam eine Zeit ununterbrochenen Elends. 16S7 waren zum ersten
Male brandenburgische Truppen in der Stadt; sie plünderten und steckten mehre
Kirchen in Brand. Es folgte der nordische Krieg. Der schwedische General
Mardefeld nahm 1703 Posen mit Sturm, und im folgenden Jahre wurde es
sechs Wochen lang von Russen und Sachsen unter dem famosen Patkul ver¬
geblich belagert. Russen und Schweden suchten abwechselnd und immer mit
neuen Contributionen die Stadt heim; auch König Karl der Zwölfte war
wiederholt dort, und man zeigt am alten Markt noch das weit hervorragende
Schirmdach über einer Hausthür, auf welches der König einst aus dem darüber-
gelegenen Fenster während der Nachmittagsruhe hinabgefallen sein soll. Was
die kriegführenden Parteien übrig ließen, rafften Hungersnot!) und Seuchen
hinweg. Auch der altranstädter Frieden brachte keine besseren Zeiten, denn der
innere Zwist entbrannte mit neuer Wuth. 1710 waren die Sachsen in der
Stadt, welche von den Conföderirten gestürmt wurde, und 1723 erfolgte in¬
folge des schrodaer Landtagsschlusses die Austreibung der Evangelischen und
die Demolirung ihrer Kirche. Während des siebenjährigen Krieges litten Stadt
und Land furchtbar unter den Verheerungen der Russen, so daß, als beide
endlich in der zweiten Theilung Polens an Preußen kamen, die Einwohnerzahl
Posens aus etwa 8000 Menschen herabgekommen war. Kaum begann sie sich
allmälig zu erholen, so brachte der französische Krieg von 1806 bis 1807 neue
Drangsale. Napoleon hielt sich im Winter von 1806 zu 1807 längere Zeit
dort auf; am 11. December 1806 ward dort der Friede zwischen Frankreich,
Sachsen und den sächsischen Herzogtümern geschlossen. Wie elend damals noch
der Zustand der Stadt war, beweist, daß der weimarsche Gesandte Friedrich
v. Müller bei einer Fahrt zur Audienz in einem Kothloch der ungepflasierten
Straßen mit dem Wagen stecken blieb.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/263>, abgerufen am 23.12.2024.