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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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lischen, aber doch nicht zu einer nationalen Einheit verbunden worden. Die
römische Stadtgemeinde hatte ihr Stadtrecht, sie hatte die Sprache und
Bildung Latinas über die Halbinsel verbreitet, aber sie war weder in einer
italischen Nationalität aufgegangen, die überhaupt nicht eMirte, noch hatte sie
die italischen Stämme zu Lateinern gemacht. Selbst die endlich erfolgte Er-
theilung des Bürgerrechtes an alle Jtaliker vermochte nicht eine einheitliche
Nation zu schaffen, wie denn überhaupt die antike Staatsidee fast nirgends
verschiedene Stämme zu Nationen, ja, kaum einmal mehre größere Gemeinden
zu organischen Einheiten verschmolzen hat. Im Mittelalter lassen sich zwei
entgegengesetzte Strömungen unterscheiden, zunächst der Trieb individueller Ge¬
staltung, der, wenn wir das alte Griechenland ausnehmen, nirgends so schöpfe¬
risch und gewaltig, in allen Richtungen des Lebens, in Politik, Wissenschaft,
Kunst gewirkt hat, als in Italien; sodann aber die entgegengesetzte Strömung,
das Zusammenwachsen aller dieser Elemente zu einer Nation. Es würde zu
weit führen, im Einzelnen auf die Momente einzugehen, die zu diesem Resul¬
tat geführt haben. Nur darauf wollen wir hinweisen, daß Italien diese ideale
Einigung wesentlich dem Gegensatz gegen das übermächtig andringende Fremde
verdankt, und daß die aus diesem Gegensatze sich entwickelnde Einheitsidee ihren
kräftigsten Stützpunkt in der gewaltigsten kosmopolitischen Macht, die je die Welt
beherrscht hat, in dem Papstthum, als dem gemeinsamen Gegner des germa¬
nischen Elements fand. Und dies Nationalgefühl wurde bald so stark, daß der
Italiener, gehoben durch die Erinnerung an die frühere Bedeutung seines Hei-
mathlandes, das Bewußtsein seiner früheren Bildung, das einzige Gut, das
er vor seinem Herrn voraus hatte, zum krankhaften Hochmuth überspannte,
daß er seinen Ueberwinder als Barbaren verachtete, und das selbst noch in
Zeiten, wo er längst die Führerschaft in dem Streben der europäischen Mensch¬
heit nach höherer Cultur verloren hatte, wo jenseits der Alpen bereits geistige
Schlachten geschlagen waren, zu denen in Italien wohl manches Vorspiel er¬
schienen war, die aber in dem durch verfeinerten Genuß mehr entarteten als
gehobenen und gekräftigten Lande ohne jeden ernstern Nachklang blieben.

Nun ist es sehr merkwürdig, daß dieses überaus starke Nationalbewußtsein,
nach einigen theils geräuschvollen und phantastischen, theils wirklich kräftigen
Ansätzen im Mittelalter, in der neueren Zeit Jahrhunderte lang k<me oder doch
nur eine höchst geringe politische Wirkung ausgeübt hat. Von einem Streben
nach politischer Einheit findet sich kaum eine Spur; der Widerstand gegen die
Fremden erlahmt, Italien wird der Kampfplatz mächtiger Rivalen und willen¬
los der Preis des Siegers. Es wäre irrig, wenn man die Erklärung für diese
Erscheinung darin suchen wollte, daß es den Italienern überhaupt und durch¬
weg an Politischen Sinn und an der Neigung für politische Thätigkeit gefehlt
habe. Die mächtigen Stadtrepubliken geben im Gegentheil einen hohen Be-


lischen, aber doch nicht zu einer nationalen Einheit verbunden worden. Die
römische Stadtgemeinde hatte ihr Stadtrecht, sie hatte die Sprache und
Bildung Latinas über die Halbinsel verbreitet, aber sie war weder in einer
italischen Nationalität aufgegangen, die überhaupt nicht eMirte, noch hatte sie
die italischen Stämme zu Lateinern gemacht. Selbst die endlich erfolgte Er-
theilung des Bürgerrechtes an alle Jtaliker vermochte nicht eine einheitliche
Nation zu schaffen, wie denn überhaupt die antike Staatsidee fast nirgends
verschiedene Stämme zu Nationen, ja, kaum einmal mehre größere Gemeinden
zu organischen Einheiten verschmolzen hat. Im Mittelalter lassen sich zwei
entgegengesetzte Strömungen unterscheiden, zunächst der Trieb individueller Ge¬
staltung, der, wenn wir das alte Griechenland ausnehmen, nirgends so schöpfe¬
risch und gewaltig, in allen Richtungen des Lebens, in Politik, Wissenschaft,
Kunst gewirkt hat, als in Italien; sodann aber die entgegengesetzte Strömung,
das Zusammenwachsen aller dieser Elemente zu einer Nation. Es würde zu
weit führen, im Einzelnen auf die Momente einzugehen, die zu diesem Resul¬
tat geführt haben. Nur darauf wollen wir hinweisen, daß Italien diese ideale
Einigung wesentlich dem Gegensatz gegen das übermächtig andringende Fremde
verdankt, und daß die aus diesem Gegensatze sich entwickelnde Einheitsidee ihren
kräftigsten Stützpunkt in der gewaltigsten kosmopolitischen Macht, die je die Welt
beherrscht hat, in dem Papstthum, als dem gemeinsamen Gegner des germa¬
nischen Elements fand. Und dies Nationalgefühl wurde bald so stark, daß der
Italiener, gehoben durch die Erinnerung an die frühere Bedeutung seines Hei-
mathlandes, das Bewußtsein seiner früheren Bildung, das einzige Gut, das
er vor seinem Herrn voraus hatte, zum krankhaften Hochmuth überspannte,
daß er seinen Ueberwinder als Barbaren verachtete, und das selbst noch in
Zeiten, wo er längst die Führerschaft in dem Streben der europäischen Mensch¬
heit nach höherer Cultur verloren hatte, wo jenseits der Alpen bereits geistige
Schlachten geschlagen waren, zu denen in Italien wohl manches Vorspiel er¬
schienen war, die aber in dem durch verfeinerten Genuß mehr entarteten als
gehobenen und gekräftigten Lande ohne jeden ernstern Nachklang blieben.

Nun ist es sehr merkwürdig, daß dieses überaus starke Nationalbewußtsein,
nach einigen theils geräuschvollen und phantastischen, theils wirklich kräftigen
Ansätzen im Mittelalter, in der neueren Zeit Jahrhunderte lang k<me oder doch
nur eine höchst geringe politische Wirkung ausgeübt hat. Von einem Streben
nach politischer Einheit findet sich kaum eine Spur; der Widerstand gegen die
Fremden erlahmt, Italien wird der Kampfplatz mächtiger Rivalen und willen¬
los der Preis des Siegers. Es wäre irrig, wenn man die Erklärung für diese
Erscheinung darin suchen wollte, daß es den Italienern überhaupt und durch¬
weg an Politischen Sinn und an der Neigung für politische Thätigkeit gefehlt
habe. Die mächtigen Stadtrepubliken geben im Gegentheil einen hohen Be-


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[0250] lischen, aber doch nicht zu einer nationalen Einheit verbunden worden. Die römische Stadtgemeinde hatte ihr Stadtrecht, sie hatte die Sprache und Bildung Latinas über die Halbinsel verbreitet, aber sie war weder in einer italischen Nationalität aufgegangen, die überhaupt nicht eMirte, noch hatte sie die italischen Stämme zu Lateinern gemacht. Selbst die endlich erfolgte Er- theilung des Bürgerrechtes an alle Jtaliker vermochte nicht eine einheitliche Nation zu schaffen, wie denn überhaupt die antike Staatsidee fast nirgends verschiedene Stämme zu Nationen, ja, kaum einmal mehre größere Gemeinden zu organischen Einheiten verschmolzen hat. Im Mittelalter lassen sich zwei entgegengesetzte Strömungen unterscheiden, zunächst der Trieb individueller Ge¬ staltung, der, wenn wir das alte Griechenland ausnehmen, nirgends so schöpfe¬ risch und gewaltig, in allen Richtungen des Lebens, in Politik, Wissenschaft, Kunst gewirkt hat, als in Italien; sodann aber die entgegengesetzte Strömung, das Zusammenwachsen aller dieser Elemente zu einer Nation. Es würde zu weit führen, im Einzelnen auf die Momente einzugehen, die zu diesem Resul¬ tat geführt haben. Nur darauf wollen wir hinweisen, daß Italien diese ideale Einigung wesentlich dem Gegensatz gegen das übermächtig andringende Fremde verdankt, und daß die aus diesem Gegensatze sich entwickelnde Einheitsidee ihren kräftigsten Stützpunkt in der gewaltigsten kosmopolitischen Macht, die je die Welt beherrscht hat, in dem Papstthum, als dem gemeinsamen Gegner des germa¬ nischen Elements fand. Und dies Nationalgefühl wurde bald so stark, daß der Italiener, gehoben durch die Erinnerung an die frühere Bedeutung seines Hei- mathlandes, das Bewußtsein seiner früheren Bildung, das einzige Gut, das er vor seinem Herrn voraus hatte, zum krankhaften Hochmuth überspannte, daß er seinen Ueberwinder als Barbaren verachtete, und das selbst noch in Zeiten, wo er längst die Führerschaft in dem Streben der europäischen Mensch¬ heit nach höherer Cultur verloren hatte, wo jenseits der Alpen bereits geistige Schlachten geschlagen waren, zu denen in Italien wohl manches Vorspiel er¬ schienen war, die aber in dem durch verfeinerten Genuß mehr entarteten als gehobenen und gekräftigten Lande ohne jeden ernstern Nachklang blieben. Nun ist es sehr merkwürdig, daß dieses überaus starke Nationalbewußtsein, nach einigen theils geräuschvollen und phantastischen, theils wirklich kräftigen Ansätzen im Mittelalter, in der neueren Zeit Jahrhunderte lang k<me oder doch nur eine höchst geringe politische Wirkung ausgeübt hat. Von einem Streben nach politischer Einheit findet sich kaum eine Spur; der Widerstand gegen die Fremden erlahmt, Italien wird der Kampfplatz mächtiger Rivalen und willen¬ los der Preis des Siegers. Es wäre irrig, wenn man die Erklärung für diese Erscheinung darin suchen wollte, daß es den Italienern überhaupt und durch¬ weg an Politischen Sinn und an der Neigung für politische Thätigkeit gefehlt habe. Die mächtigen Stadtrepubliken geben im Gegentheil einen hohen Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/250>, abgerufen am 28.07.2024.