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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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lernen müssen, sie seltener zu feiern und durch sich selbst zu erhalten. Es ist
auch vorauszusehen, daß die unschuldige Festwärme, welche die Deutschen jetzt
erfüllt, sich etwas verringern wird, sobald die politische Vereinigung der deut¬
schen Staaten eine innigere geworden ist und die nationalen Ideen nicht mehr
auf Festplätzen und Tribünen der Festtafeln, sondern in einem Volksparlament
ihren Ausdruck gefunden haben. Man darf ohne Sorge sein, daß der verstän¬
dige Sinn der Deutschen, die etwa wünschenswerthe Beschränkung rechtzeitig
finden wird. Aber die Hauptsache, das herzliche Jneinanderlcben der Einzel¬
nen, das, vertrauen wir, wird bleiben, und eine spätere Zukunft wird mit be¬
sonderer Liebe auf diese erste Zeit des jungen erwachten Nationalgefühls zurück¬
blicken und auf die heitere, kluge und zweckvolle Weise, in welcher dasselbe sich
wirksam erwies.

Der letzte Grund der Heiterkeit aber, welche in diesem Sommer unläugbar
alle Classen des Volkes durchweht, ist nächst der guten Ernte und der Zunahme
des materiellen Gedeihens ein lebhaftes Gefühl, daß es im Ganzen mit dem
deutschen Leben in starker Steigerung vorwärts gehe, und daß die Reaction,
Verschrobenheit einzelner Regierungen und Verkehrtheit einzelner Parteien zwar
Störung, Aufenthalt, vielleicht vorübergehendes Unglück bringen könne, im
Ganzen aber kein dauerndes Hinderniß einer großen volksthümlichen Entwicklung.

In der letzten Woche ist die Sorge vor einem Krieg zwischen Nußland
und den Mächten England, Frankreich, Oestreich, welche nach der schroffen
russischen Antwort auf die Forderungen der "Alliirten" einige Tage sehr leb¬
hast geworden war. verringert worden. Man hält für wahrscheinlich, daß
Nußland doch noch die sechs Punkte vollständig annehmen werde. Dazu kom¬
men zwei Erklärungen nichtofficieller Parteien, welche der Erhaltung des euro¬
päischen Friedens günstig sind. Die Feudalpresse Preußens verräth fast wider
Willen, daß auch das herrschende System keine Neigung habe, sich und Preußen
für Nußland zu opfern, und auf der andern Seite decretirt die anonyme
Negierung zu Warschau Wiederherstellung Polens innerhalb der Grenzen
von 1772.

Beide Aeußerungen haben an sich betrachtet in Europa wenig Gewicht,
es sind Einfälle der Schwäche, welche in den nächsten acht Tagen durch ent¬
gegengesetzte Einfälle gekreuzt werden können. Die Anhänger des Ministeriums
Bismarck in Preußen irren höchlich, wenn sie meinen, es stehe ihnen frei, mit
Oestreich und England in das Verhältniß engerer politischer Freundschaft zu
treten. Zu solcher Freundschaft gehört guter Wille und Respect von beiden
Seiten. Die Politik der feudalen Partei leidet aber durch ganz Europa an
solcher Mißachtung, und die Negierungsprincipien des gegenwärtigen Ministe¬
riums sind bei allen Völkern und Cabineten so discreditirt, daß eine freund¬
schaftliche Annäherung der gegenwärtigen Regierung Preußens überall auf kalte


lernen müssen, sie seltener zu feiern und durch sich selbst zu erhalten. Es ist
auch vorauszusehen, daß die unschuldige Festwärme, welche die Deutschen jetzt
erfüllt, sich etwas verringern wird, sobald die politische Vereinigung der deut¬
schen Staaten eine innigere geworden ist und die nationalen Ideen nicht mehr
auf Festplätzen und Tribünen der Festtafeln, sondern in einem Volksparlament
ihren Ausdruck gefunden haben. Man darf ohne Sorge sein, daß der verstän¬
dige Sinn der Deutschen, die etwa wünschenswerthe Beschränkung rechtzeitig
finden wird. Aber die Hauptsache, das herzliche Jneinanderlcben der Einzel¬
nen, das, vertrauen wir, wird bleiben, und eine spätere Zukunft wird mit be¬
sonderer Liebe auf diese erste Zeit des jungen erwachten Nationalgefühls zurück¬
blicken und auf die heitere, kluge und zweckvolle Weise, in welcher dasselbe sich
wirksam erwies.

Der letzte Grund der Heiterkeit aber, welche in diesem Sommer unläugbar
alle Classen des Volkes durchweht, ist nächst der guten Ernte und der Zunahme
des materiellen Gedeihens ein lebhaftes Gefühl, daß es im Ganzen mit dem
deutschen Leben in starker Steigerung vorwärts gehe, und daß die Reaction,
Verschrobenheit einzelner Regierungen und Verkehrtheit einzelner Parteien zwar
Störung, Aufenthalt, vielleicht vorübergehendes Unglück bringen könne, im
Ganzen aber kein dauerndes Hinderniß einer großen volksthümlichen Entwicklung.

In der letzten Woche ist die Sorge vor einem Krieg zwischen Nußland
und den Mächten England, Frankreich, Oestreich, welche nach der schroffen
russischen Antwort auf die Forderungen der „Alliirten" einige Tage sehr leb¬
hast geworden war. verringert worden. Man hält für wahrscheinlich, daß
Nußland doch noch die sechs Punkte vollständig annehmen werde. Dazu kom¬
men zwei Erklärungen nichtofficieller Parteien, welche der Erhaltung des euro¬
päischen Friedens günstig sind. Die Feudalpresse Preußens verräth fast wider
Willen, daß auch das herrschende System keine Neigung habe, sich und Preußen
für Nußland zu opfern, und auf der andern Seite decretirt die anonyme
Negierung zu Warschau Wiederherstellung Polens innerhalb der Grenzen
von 1772.

Beide Aeußerungen haben an sich betrachtet in Europa wenig Gewicht,
es sind Einfälle der Schwäche, welche in den nächsten acht Tagen durch ent¬
gegengesetzte Einfälle gekreuzt werden können. Die Anhänger des Ministeriums
Bismarck in Preußen irren höchlich, wenn sie meinen, es stehe ihnen frei, mit
Oestreich und England in das Verhältniß engerer politischer Freundschaft zu
treten. Zu solcher Freundschaft gehört guter Wille und Respect von beiden
Seiten. Die Politik der feudalen Partei leidet aber durch ganz Europa an
solcher Mißachtung, und die Negierungsprincipien des gegenwärtigen Ministe¬
riums sind bei allen Völkern und Cabineten so discreditirt, daß eine freund¬
schaftliche Annäherung der gegenwärtigen Regierung Preußens überall auf kalte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/244>, abgerufen am 22.12.2024.