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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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stab statt des historischen anlegte. Wir Deutschen sind es, die seine Henker
wurden; es schlug ihn der unnachsichtige, ja zuweilen grausame Sinn unsres
Volkes für das Recht des geschichtlich Gewordenen. Die Gerechten unter denen,
welche ihn opferten, thaten es mit dem dunklen Gefühle, die Sittlichkeit der
Geschichte retten zu müssen gegen die absolute des Einzelnen. Den Haß der
schweren That haben wir reichlich getragen. Die wüste Zersplitterung im Ent-
wicklungsgange unsres Volkes während des fünfzehnten Jahrhunderts ist Zeug¬
niß davon. Aber wir haben jene That in Luther gesühnt.

Die böhmische Nation hat den ungeheuren Schmerz bis zur Erschöpfung
ausgetobt. In der großen Krankheit sind alle Wunden aufgebrochen, welche
der Lauf der Zeiten ihr geschlagen hatte. Die ketzerische Trennung von den
anderen Culturvölkern steigerte den großen Groll zur fanatischen Wuth, die
über das Ziel hinausschlagend die höchsten Güter in Gefahr brachte. So ge¬
schah es. daß aus der Verwüstung der hussitischen Kriege der alte elementare
Feind der politischen Entwicklung aufs Neue sein Haupt erhob. Das oligar-
chische Zwischenreich enthüllte in schrecklicher Gestalt die langverhaltenen Bestre¬
bungen des originalböhmischen Adels.

Da erschien nach dem frühen Tode des Ladislaus Postumus, dessen Reich
zum ersten Mal einen östreichischen Gesammtstaat darstellen sollte, in Georg
von Podiebrad der Nation ein Retter. Daß er unfürstlich und als Böhme
geboren. Hussit und Wahlkönig des Volkes war, machte ihn zum Manne der
Zeit; aber zum Meister der ungeheuren Situation wurde er durch die Macht
seiner großen Gedanken und seiner hohen Gesinnung. Die Kräfte des wild-
zerrütteten Vaterlandes wieder zu sammeln und die Traditionen der Jüngst-
vergangenhcit zu versöhnen mit den Forderungen organischer geschichtlicher Ent¬
wicklung, das war das Problem seiner weisen und kräftigen Negierung. Die
religiöse Bewegung sollte in der vom dahier Concil zugestandenen Gleich'
berechtigung des utraquistischen und römisch-katholischen Ritus in das Geleis
fester-kirchlicher Zustände eingeführt werden, für welche die Staatsgewalt auf
Grund der Toleranz der beiden Bekenntnisse die Gewähr übernahm. Den
Staat selbst aber wollte er durch strenge Wahrung des monarchischen Principes
gegen die ständische Autonomie im Sinne der territorialen Entwicklung, wie
sie im deutschen Reiche sich anbahnte, national abschließen. Aber Georg sah
sich genöthigt, seine Ziele aus dem weiten Umwege politischer Action nach Außen
zu erstreben. Dadurch gerierh er wie principiell so praktisch in die ganze Fülle
der Controversen hinein, welche die Entwicklung Deutschlands bewegten, und
dies führte ihn in ein Netz von Beziehungen, die er mit kühnem Griffe, aber
ohne Erfolg in bestimmte Formen zu bannen versuchte. Hierhin gehören die
Projecte zur Erwerbung der römischen Kaiserwürde, zu den mannigfaltigen
Coalitionen, zum Fürstencongreß und zur Eroberung Konstantinopels, unzählige


Grenzboten III. 1S63. 24

stab statt des historischen anlegte. Wir Deutschen sind es, die seine Henker
wurden; es schlug ihn der unnachsichtige, ja zuweilen grausame Sinn unsres
Volkes für das Recht des geschichtlich Gewordenen. Die Gerechten unter denen,
welche ihn opferten, thaten es mit dem dunklen Gefühle, die Sittlichkeit der
Geschichte retten zu müssen gegen die absolute des Einzelnen. Den Haß der
schweren That haben wir reichlich getragen. Die wüste Zersplitterung im Ent-
wicklungsgange unsres Volkes während des fünfzehnten Jahrhunderts ist Zeug¬
niß davon. Aber wir haben jene That in Luther gesühnt.

Die böhmische Nation hat den ungeheuren Schmerz bis zur Erschöpfung
ausgetobt. In der großen Krankheit sind alle Wunden aufgebrochen, welche
der Lauf der Zeiten ihr geschlagen hatte. Die ketzerische Trennung von den
anderen Culturvölkern steigerte den großen Groll zur fanatischen Wuth, die
über das Ziel hinausschlagend die höchsten Güter in Gefahr brachte. So ge¬
schah es. daß aus der Verwüstung der hussitischen Kriege der alte elementare
Feind der politischen Entwicklung aufs Neue sein Haupt erhob. Das oligar-
chische Zwischenreich enthüllte in schrecklicher Gestalt die langverhaltenen Bestre¬
bungen des originalböhmischen Adels.

Da erschien nach dem frühen Tode des Ladislaus Postumus, dessen Reich
zum ersten Mal einen östreichischen Gesammtstaat darstellen sollte, in Georg
von Podiebrad der Nation ein Retter. Daß er unfürstlich und als Böhme
geboren. Hussit und Wahlkönig des Volkes war, machte ihn zum Manne der
Zeit; aber zum Meister der ungeheuren Situation wurde er durch die Macht
seiner großen Gedanken und seiner hohen Gesinnung. Die Kräfte des wild-
zerrütteten Vaterlandes wieder zu sammeln und die Traditionen der Jüngst-
vergangenhcit zu versöhnen mit den Forderungen organischer geschichtlicher Ent¬
wicklung, das war das Problem seiner weisen und kräftigen Negierung. Die
religiöse Bewegung sollte in der vom dahier Concil zugestandenen Gleich'
berechtigung des utraquistischen und römisch-katholischen Ritus in das Geleis
fester-kirchlicher Zustände eingeführt werden, für welche die Staatsgewalt auf
Grund der Toleranz der beiden Bekenntnisse die Gewähr übernahm. Den
Staat selbst aber wollte er durch strenge Wahrung des monarchischen Principes
gegen die ständische Autonomie im Sinne der territorialen Entwicklung, wie
sie im deutschen Reiche sich anbahnte, national abschließen. Aber Georg sah
sich genöthigt, seine Ziele aus dem weiten Umwege politischer Action nach Außen
zu erstreben. Dadurch gerierh er wie principiell so praktisch in die ganze Fülle
der Controversen hinein, welche die Entwicklung Deutschlands bewegten, und
dies führte ihn in ein Netz von Beziehungen, die er mit kühnem Griffe, aber
ohne Erfolg in bestimmte Formen zu bannen versuchte. Hierhin gehören die
Projecte zur Erwerbung der römischen Kaiserwürde, zu den mannigfaltigen
Coalitionen, zum Fürstencongreß und zur Eroberung Konstantinopels, unzählige


Grenzboten III. 1S63. 24
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/193>, abgerufen am 28.07.2024.