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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Sein Leben gestaltete sich nun so. daß er fast jedes Jahr während des
Winters und Frühjahrs in England verweilte. Dann wohnte er im Buckingham-
Palast oder Schloß Windsor in unabhängiger Stellung als ein lieber ver¬
ehrter Freund und Gast. Wenn der Prinz sich von den Geschäften des
Tages erholen wollte, fand er Erfrischung auf Stockmars Zimmer, die könig¬
lichen Kinder betrachteten ihn wie einen freundlichen Großvater, den sie beson¬
ders gern heimsuchten, der "Baron" war die allgemeine Zuflucht Aller, die
um den Hof eine Klage oder einen Wunsch hatten. Der Gast lebte auch in
dem Königsschlosse in seiner einfachen tialem Weise fort. Denn war auch dem
alternden Herrn die Frische des Geistes und die Fröhlichkeit des Herzens im
Verkehr mit Andern unverringert, so beobachtete er doch seinen eigenen Körper
schon längst mit starkem Mißtrauen, und war in der Stille geneigt, sich als
bedenklichen Patienten zu behandeln. So kam es wohl vor, daß er sich an die
feste Tagesordnung des pünktlichsten aller Höfe nicht sorglich kehrte, und daß die
Königin und ihr Gemahl einmal vergeblich auf ihn warteten, oder baß der
Gast mitten während der Tafel in die Gesellschaft trat und sich gemüthlich auf
seinen Platz setzte. Und wenn das Frühjahr gekommen war, dann war der
alte Freund auf einmal verschwunden, weil er das Abschiednehmen durchaus
nicht leiden konnte, dann fanden die Königskinder an einem Morgen sein Zim¬
mer leer und schrieben fleißig Briefe nach Coburg mit Klagen über seine Un¬
treue und herzlichen Vorwürfen. Und schon im Sommer begannen die drin¬
genden Bitten, er möge doch bald wieder kommen.

In dieser Weise wiederholten sich seine langen Besuche in England zwan¬
zig Jahre durch, von 1837--1857. Das le.tzte Werk, zu dem er dort hervor¬
ragend mitwirkte, war die Vermählung der Prinzeß Victoria mit dem Kron¬
prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen.

In den letzten Jahren seines Lebens, bei zunehmender Kränklichkeit konnte
er sich nicht mehr entschließen, den Einladungen der englischen Königsfcunilie
nachzugeben und die Reise dorthin zu machen. Der Wunsch, ihm nahe zu sein,
trug dazu bei, den Prinzgemahl und die Königin seitdem zu längerem Aufent¬
halt in Deutschland zu veranlassen. Wenn sie dann in Coburg verweilten,
muthete sich der alte Herr wohl einmal einen Besuch im Schlosse zu, aber häu¬
siger suchten die^ fremden Gäste ihn in seiner Wohnung auf. Und tagtäglich
sah man die königliche Familie und wieder Kronprinz und Kronprinzessin von
Preußen zu einem stillen Hause in einer Seitenstraße wandern, um den greisen
Freund zu besuchen. Das ruhige Selbstgefühl des Privatmanns, dem diese
herzlichen Huldigungen eines Königsgeschlechts dargebracht wurden, und die
zarte Aufmerksamkeit der vornehmen Gäste war der natürliche Ausdruck eines
festen und innigen Verhältnisses zwischen guten und tüchtigen Menschen, dessen
Werth nicht am wenigsten die fürstlichen Gäste empfanden. Alles Große und


Grenzboten III. 1S63. 22

Sein Leben gestaltete sich nun so. daß er fast jedes Jahr während des
Winters und Frühjahrs in England verweilte. Dann wohnte er im Buckingham-
Palast oder Schloß Windsor in unabhängiger Stellung als ein lieber ver¬
ehrter Freund und Gast. Wenn der Prinz sich von den Geschäften des
Tages erholen wollte, fand er Erfrischung auf Stockmars Zimmer, die könig¬
lichen Kinder betrachteten ihn wie einen freundlichen Großvater, den sie beson¬
ders gern heimsuchten, der „Baron" war die allgemeine Zuflucht Aller, die
um den Hof eine Klage oder einen Wunsch hatten. Der Gast lebte auch in
dem Königsschlosse in seiner einfachen tialem Weise fort. Denn war auch dem
alternden Herrn die Frische des Geistes und die Fröhlichkeit des Herzens im
Verkehr mit Andern unverringert, so beobachtete er doch seinen eigenen Körper
schon längst mit starkem Mißtrauen, und war in der Stille geneigt, sich als
bedenklichen Patienten zu behandeln. So kam es wohl vor, daß er sich an die
feste Tagesordnung des pünktlichsten aller Höfe nicht sorglich kehrte, und daß die
Königin und ihr Gemahl einmal vergeblich auf ihn warteten, oder baß der
Gast mitten während der Tafel in die Gesellschaft trat und sich gemüthlich auf
seinen Platz setzte. Und wenn das Frühjahr gekommen war, dann war der
alte Freund auf einmal verschwunden, weil er das Abschiednehmen durchaus
nicht leiden konnte, dann fanden die Königskinder an einem Morgen sein Zim¬
mer leer und schrieben fleißig Briefe nach Coburg mit Klagen über seine Un¬
treue und herzlichen Vorwürfen. Und schon im Sommer begannen die drin¬
genden Bitten, er möge doch bald wieder kommen.

In dieser Weise wiederholten sich seine langen Besuche in England zwan¬
zig Jahre durch, von 1837—1857. Das le.tzte Werk, zu dem er dort hervor¬
ragend mitwirkte, war die Vermählung der Prinzeß Victoria mit dem Kron¬
prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen.

In den letzten Jahren seines Lebens, bei zunehmender Kränklichkeit konnte
er sich nicht mehr entschließen, den Einladungen der englischen Königsfcunilie
nachzugeben und die Reise dorthin zu machen. Der Wunsch, ihm nahe zu sein,
trug dazu bei, den Prinzgemahl und die Königin seitdem zu längerem Aufent¬
halt in Deutschland zu veranlassen. Wenn sie dann in Coburg verweilten,
muthete sich der alte Herr wohl einmal einen Besuch im Schlosse zu, aber häu¬
siger suchten die^ fremden Gäste ihn in seiner Wohnung auf. Und tagtäglich
sah man die königliche Familie und wieder Kronprinz und Kronprinzessin von
Preußen zu einem stillen Hause in einer Seitenstraße wandern, um den greisen
Freund zu besuchen. Das ruhige Selbstgefühl des Privatmanns, dem diese
herzlichen Huldigungen eines Königsgeschlechts dargebracht wurden, und die
zarte Aufmerksamkeit der vornehmen Gäste war der natürliche Ausdruck eines
festen und innigen Verhältnisses zwischen guten und tüchtigen Menschen, dessen
Werth nicht am wenigsten die fürstlichen Gäste empfanden. Alles Große und


Grenzboten III. 1S63. 22
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[0177] Sein Leben gestaltete sich nun so. daß er fast jedes Jahr während des Winters und Frühjahrs in England verweilte. Dann wohnte er im Buckingham- Palast oder Schloß Windsor in unabhängiger Stellung als ein lieber ver¬ ehrter Freund und Gast. Wenn der Prinz sich von den Geschäften des Tages erholen wollte, fand er Erfrischung auf Stockmars Zimmer, die könig¬ lichen Kinder betrachteten ihn wie einen freundlichen Großvater, den sie beson¬ ders gern heimsuchten, der „Baron" war die allgemeine Zuflucht Aller, die um den Hof eine Klage oder einen Wunsch hatten. Der Gast lebte auch in dem Königsschlosse in seiner einfachen tialem Weise fort. Denn war auch dem alternden Herrn die Frische des Geistes und die Fröhlichkeit des Herzens im Verkehr mit Andern unverringert, so beobachtete er doch seinen eigenen Körper schon längst mit starkem Mißtrauen, und war in der Stille geneigt, sich als bedenklichen Patienten zu behandeln. So kam es wohl vor, daß er sich an die feste Tagesordnung des pünktlichsten aller Höfe nicht sorglich kehrte, und daß die Königin und ihr Gemahl einmal vergeblich auf ihn warteten, oder baß der Gast mitten während der Tafel in die Gesellschaft trat und sich gemüthlich auf seinen Platz setzte. Und wenn das Frühjahr gekommen war, dann war der alte Freund auf einmal verschwunden, weil er das Abschiednehmen durchaus nicht leiden konnte, dann fanden die Königskinder an einem Morgen sein Zim¬ mer leer und schrieben fleißig Briefe nach Coburg mit Klagen über seine Un¬ treue und herzlichen Vorwürfen. Und schon im Sommer begannen die drin¬ genden Bitten, er möge doch bald wieder kommen. In dieser Weise wiederholten sich seine langen Besuche in England zwan¬ zig Jahre durch, von 1837—1857. Das le.tzte Werk, zu dem er dort hervor¬ ragend mitwirkte, war die Vermählung der Prinzeß Victoria mit dem Kron¬ prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen. In den letzten Jahren seines Lebens, bei zunehmender Kränklichkeit konnte er sich nicht mehr entschließen, den Einladungen der englischen Königsfcunilie nachzugeben und die Reise dorthin zu machen. Der Wunsch, ihm nahe zu sein, trug dazu bei, den Prinzgemahl und die Königin seitdem zu längerem Aufent¬ halt in Deutschland zu veranlassen. Wenn sie dann in Coburg verweilten, muthete sich der alte Herr wohl einmal einen Besuch im Schlosse zu, aber häu¬ siger suchten die^ fremden Gäste ihn in seiner Wohnung auf. Und tagtäglich sah man die königliche Familie und wieder Kronprinz und Kronprinzessin von Preußen zu einem stillen Hause in einer Seitenstraße wandern, um den greisen Freund zu besuchen. Das ruhige Selbstgefühl des Privatmanns, dem diese herzlichen Huldigungen eines Königsgeschlechts dargebracht wurden, und die zarte Aufmerksamkeit der vornehmen Gäste war der natürliche Ausdruck eines festen und innigen Verhältnisses zwischen guten und tüchtigen Menschen, dessen Werth nicht am wenigsten die fürstlichen Gäste empfanden. Alles Große und Grenzboten III. 1S63. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/177>, abgerufen am 28.07.2024.