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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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daß die Franzosenherrschaft nicht mehr lange dauern kann; vertrauet auf den
natürlichen Gang der Dinge." Diese ruhige Zuversicht machte einen tiefen Ein¬
druck auf Stockmar, Der natürliche Gang der Dinge, worin mochte er bestehen?
In den Verwüstungen, die der Erfolg selbst an den Seelen der Gewalthaber
hervorbringen mußte, ihr Urtheil verblendend, ihren Rathschluß verderbend; in
der Kräftigung und Erhebung, welche die bittere Noth dem Gemüth der Deut¬
schen bringen konnte. Das fügte sich zu der Anschauung vom Leben, die ihm
selbst durch Studium und Bildung gekommen war. Ja auch das politische
Schicksgl eines Volkes war nur die fortlaufende Kette von Lebensäußerungen
eines großen Organismus. Auch hier war das letzte eine treibende Lebenskraft,
modificirt durch die Weltlage und die Individualität des Volkes, eingeengt und
gesteigert durch Einwirkungen anderer Völker. Nur was dieser nationalen
Kraft Stärkung und Gedeihen gab, war in der Politik gut. Auch die politi¬
schen Krankheiten entwickelten sich in einem bestimmten Verlauf, und die Leiter
der Politik, welche ihre egoistischen Zwecke durchzusetzen Sunsenii, Fürsten und
Staatsmänner, waren in ihrem Werthe darnach zu schätzen, ob sie dem gro¬
ßen Ganzen, dem Leben der Völker Förderung oder Beschränkung schufen. So
bereitete sich früh in der Seele des Jünglings eine Auffassung des Staats und
der Stellung der Fürsten zum Volke vor, welche damals neu und radikal erschien,
welche seitdem die feste Grundlage des deutschen Liberalisinus geworden ist.

Unter Krieg und großen Katastrophen hatten sich die akademischen Studien
Stockmars auf fünf Jahre ausgedehnt. Er war in der Zeit zum Manne ge¬
reift, das unruhige Hin- und Herziehen, welches dieser Periode deutscher Ent¬
wickelung eigen war, hatte auch ihm eine ungewöhnliche Anzahl fremder Ge¬
stalten vor die Augen geführt, er hatte Menschen in außerordentlichen Lagen
tief in das Herz gesehen, hatte viele Fremde und Landsleute in Liebe und
Haß kennen gelernt, hatte sich leicht in verschiedene Art gefunden und.dabei
doch gelernt sich selbst zu behüten. So kehrte er im Jahre 1810 nach Coburg
zurück und begann die medizinische Praxis.

Schon im Jahre 1812 wurde er Stadt- und LandphrMus von Coburg.
Als Napoleons Zug nach Rußland und die fürchterliche Rückkehr des geschla¬
genen Heeres über die deutschen Länder kam, da wurde auch ihm die Aufgabe,
welche in jener harten Zeit das Leben vieler Aerzte mit tödtlicher Gefahr be¬
droht hat; er wurde Dirigent eines großen Militärlazareths in Coburg. Auch
sein Lazarett) füllte sich mit den Unglücklichen, welche Seuchen und den Keim
des Todes aus dem Eise Rußlands zurückbrachten.

Im Januar 1814 zog er als Oberarzt der herzoglich sächsische" Contin-
gente mit an den Rhein. Bei Mainz angelangt, wurde er als Stabsarzt des
fünften deutschen Armeecorps nach Worms commandirt, wo er ein unter Steins
Verwaltung stehendes Militärhospital leitete.


daß die Franzosenherrschaft nicht mehr lange dauern kann; vertrauet auf den
natürlichen Gang der Dinge." Diese ruhige Zuversicht machte einen tiefen Ein¬
druck auf Stockmar, Der natürliche Gang der Dinge, worin mochte er bestehen?
In den Verwüstungen, die der Erfolg selbst an den Seelen der Gewalthaber
hervorbringen mußte, ihr Urtheil verblendend, ihren Rathschluß verderbend; in
der Kräftigung und Erhebung, welche die bittere Noth dem Gemüth der Deut¬
schen bringen konnte. Das fügte sich zu der Anschauung vom Leben, die ihm
selbst durch Studium und Bildung gekommen war. Ja auch das politische
Schicksgl eines Volkes war nur die fortlaufende Kette von Lebensäußerungen
eines großen Organismus. Auch hier war das letzte eine treibende Lebenskraft,
modificirt durch die Weltlage und die Individualität des Volkes, eingeengt und
gesteigert durch Einwirkungen anderer Völker. Nur was dieser nationalen
Kraft Stärkung und Gedeihen gab, war in der Politik gut. Auch die politi¬
schen Krankheiten entwickelten sich in einem bestimmten Verlauf, und die Leiter
der Politik, welche ihre egoistischen Zwecke durchzusetzen Sunsenii, Fürsten und
Staatsmänner, waren in ihrem Werthe darnach zu schätzen, ob sie dem gro¬
ßen Ganzen, dem Leben der Völker Förderung oder Beschränkung schufen. So
bereitete sich früh in der Seele des Jünglings eine Auffassung des Staats und
der Stellung der Fürsten zum Volke vor, welche damals neu und radikal erschien,
welche seitdem die feste Grundlage des deutschen Liberalisinus geworden ist.

Unter Krieg und großen Katastrophen hatten sich die akademischen Studien
Stockmars auf fünf Jahre ausgedehnt. Er war in der Zeit zum Manne ge¬
reift, das unruhige Hin- und Herziehen, welches dieser Periode deutscher Ent¬
wickelung eigen war, hatte auch ihm eine ungewöhnliche Anzahl fremder Ge¬
stalten vor die Augen geführt, er hatte Menschen in außerordentlichen Lagen
tief in das Herz gesehen, hatte viele Fremde und Landsleute in Liebe und
Haß kennen gelernt, hatte sich leicht in verschiedene Art gefunden und.dabei
doch gelernt sich selbst zu behüten. So kehrte er im Jahre 1810 nach Coburg
zurück und begann die medizinische Praxis.

Schon im Jahre 1812 wurde er Stadt- und LandphrMus von Coburg.
Als Napoleons Zug nach Rußland und die fürchterliche Rückkehr des geschla¬
genen Heeres über die deutschen Länder kam, da wurde auch ihm die Aufgabe,
welche in jener harten Zeit das Leben vieler Aerzte mit tödtlicher Gefahr be¬
droht hat; er wurde Dirigent eines großen Militärlazareths in Coburg. Auch
sein Lazarett) füllte sich mit den Unglücklichen, welche Seuchen und den Keim
des Todes aus dem Eise Rußlands zurückbrachten.

Im Januar 1814 zog er als Oberarzt der herzoglich sächsische» Contin-
gente mit an den Rhein. Bei Mainz angelangt, wurde er als Stabsarzt des
fünften deutschen Armeecorps nach Worms commandirt, wo er ein unter Steins
Verwaltung stehendes Militärhospital leitete.


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[0172] daß die Franzosenherrschaft nicht mehr lange dauern kann; vertrauet auf den natürlichen Gang der Dinge." Diese ruhige Zuversicht machte einen tiefen Ein¬ druck auf Stockmar, Der natürliche Gang der Dinge, worin mochte er bestehen? In den Verwüstungen, die der Erfolg selbst an den Seelen der Gewalthaber hervorbringen mußte, ihr Urtheil verblendend, ihren Rathschluß verderbend; in der Kräftigung und Erhebung, welche die bittere Noth dem Gemüth der Deut¬ schen bringen konnte. Das fügte sich zu der Anschauung vom Leben, die ihm selbst durch Studium und Bildung gekommen war. Ja auch das politische Schicksgl eines Volkes war nur die fortlaufende Kette von Lebensäußerungen eines großen Organismus. Auch hier war das letzte eine treibende Lebenskraft, modificirt durch die Weltlage und die Individualität des Volkes, eingeengt und gesteigert durch Einwirkungen anderer Völker. Nur was dieser nationalen Kraft Stärkung und Gedeihen gab, war in der Politik gut. Auch die politi¬ schen Krankheiten entwickelten sich in einem bestimmten Verlauf, und die Leiter der Politik, welche ihre egoistischen Zwecke durchzusetzen Sunsenii, Fürsten und Staatsmänner, waren in ihrem Werthe darnach zu schätzen, ob sie dem gro¬ ßen Ganzen, dem Leben der Völker Förderung oder Beschränkung schufen. So bereitete sich früh in der Seele des Jünglings eine Auffassung des Staats und der Stellung der Fürsten zum Volke vor, welche damals neu und radikal erschien, welche seitdem die feste Grundlage des deutschen Liberalisinus geworden ist. Unter Krieg und großen Katastrophen hatten sich die akademischen Studien Stockmars auf fünf Jahre ausgedehnt. Er war in der Zeit zum Manne ge¬ reift, das unruhige Hin- und Herziehen, welches dieser Periode deutscher Ent¬ wickelung eigen war, hatte auch ihm eine ungewöhnliche Anzahl fremder Ge¬ stalten vor die Augen geführt, er hatte Menschen in außerordentlichen Lagen tief in das Herz gesehen, hatte viele Fremde und Landsleute in Liebe und Haß kennen gelernt, hatte sich leicht in verschiedene Art gefunden und.dabei doch gelernt sich selbst zu behüten. So kehrte er im Jahre 1810 nach Coburg zurück und begann die medizinische Praxis. Schon im Jahre 1812 wurde er Stadt- und LandphrMus von Coburg. Als Napoleons Zug nach Rußland und die fürchterliche Rückkehr des geschla¬ genen Heeres über die deutschen Länder kam, da wurde auch ihm die Aufgabe, welche in jener harten Zeit das Leben vieler Aerzte mit tödtlicher Gefahr be¬ droht hat; er wurde Dirigent eines großen Militärlazareths in Coburg. Auch sein Lazarett) füllte sich mit den Unglücklichen, welche Seuchen und den Keim des Todes aus dem Eise Rußlands zurückbrachten. Im Januar 1814 zog er als Oberarzt der herzoglich sächsische» Contin- gente mit an den Rhein. Bei Mainz angelangt, wurde er als Stabsarzt des fünften deutschen Armeecorps nach Worms commandirt, wo er ein unter Steins Verwaltung stehendes Militärhospital leitete.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/172>, abgerufen am 22.12.2024.