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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Fühlung des Werthes der Volkspersönlichkeit, deren praktische Form das nationale
Selbstbewußtsein ist. Dies erst vermittelt uns seiner Natur nach vor allem
bei der Geschichtsliteratur die lebhafte und stets gegenwärtige Empfindung des
Schatzes unserer eigenen Geistesthaten, und erst auf Grund des subjectiven
Maßstabes, welchen sie uns an die Hand geben, finden wir den absoluten für
die fremden Leistungen. Wo sie uns aber, wie dies bei der englischen Litera¬
tur ganz besonders der Fall ist, von einem Volke geboten werden, das wir in
seinem nationalen und politischen Leben als Vorbild feiern, da Pflegen wir
uns mit einem Eifer, einer Empfänglichkeit hinzugeben, die, mit der rührenden
Blindheit eines Gemüthsverhältnisses geschlagen, nicht nur die unbedeutendsten
Dinge adelt, sondern auch die -- natürlich im edlen Sinne -- bornirtesten An¬
schauungen mit in den Kauf nimmt.

Ebenso entschieden aber wie diese Zuneigung, deren Ursache wir angedeutet
haben, hat sich in unsrem literarischen Interesse die Kehrseite derselben heraus¬
gestellt. Es ist die slavische Literatur, welche dies zu allen Zeiten und beson¬
ders nachdrücklich und, daß wir es sagen, principiell in unsrer Gegenwart hat
erfahren müssen. Unser officielles Verhalten gegen diese Literatur ist Gleich-
giltigkeit, in allen sittlichen Verhältnissen die schlimmste Form. Fragen wir
uns einmal ehrlich, woher dies kommt. Zunächst bieten sich uns gewichtige
äußerliche Erklärungsgründe an. Die slavische -- und specieller die wortfüh-
rcnde böhmische Literatur liegt uns infolge ihres Idiomes fern, welches das
Bürgerrecht in der literarischen Welt zwar beharrlich anstrebt, aber dennoch
außerhalb des Kreises von Sprachen geblieben ist und bleiben wird, wel¬
chen die gesteigerte und erweiterte Anforderung literarischer Kenntniß in unsrer
Zeit gezogen bat. Den ersten Antrieb zur Aneignung einer fremden Sprache
gibt -- abgesehen von den privaten Interessen der Einzelnen -- das Bedürf¬
niß des Verkehres von Volk mit Volk, der geistige und sittliche Umgang von
Individualitäten, die einander anerkennen und bedürfen. Aber in diesem Sinne
ist unser Umgang mit den Slaven auf ein Minimum beschränkt; ja streng
genommen besteht er gar nicht; nur in Dingen, die keinen Antheil am Gemüthe
im weitesten Sinne haben, eigentlich nur in Handel- und Güterleben verkehren
Wir mit ihnen. Und selbst hierin -- geschweige denn im geistigen, literarischen
Verkehre -- haben wir uns gewöhnt, daß nicht wir sie, sondern sie uns auf¬
suchen. Zu dieser Stellung scheinen die slavischen Völker von der Natur selbst
angewiesen, die ihnen das verhängnisvolle Geschenk ausgezeichneter Accommo-
dationsfähigkeit in Sprache und Leben verliehen hat. Dieser Umstand berech¬
tigt keineswegs ohne Weiteres zu dem Schlüsse auf geistige Inferiorität. Es
ist vielmehr zunächst nur ein allenthalben geltendes Naturgesetz, daß, wo Völ¬
ker von verschiedenen Sprachstämmen einander nachbarlich begegnen,' dasjenige
Idiom den kürzeren zieht, welches das relativ minder entwickelte ist, d. h. dessen


Grcnzlwtcn III. 1863, 20

Fühlung des Werthes der Volkspersönlichkeit, deren praktische Form das nationale
Selbstbewußtsein ist. Dies erst vermittelt uns seiner Natur nach vor allem
bei der Geschichtsliteratur die lebhafte und stets gegenwärtige Empfindung des
Schatzes unserer eigenen Geistesthaten, und erst auf Grund des subjectiven
Maßstabes, welchen sie uns an die Hand geben, finden wir den absoluten für
die fremden Leistungen. Wo sie uns aber, wie dies bei der englischen Litera¬
tur ganz besonders der Fall ist, von einem Volke geboten werden, das wir in
seinem nationalen und politischen Leben als Vorbild feiern, da Pflegen wir
uns mit einem Eifer, einer Empfänglichkeit hinzugeben, die, mit der rührenden
Blindheit eines Gemüthsverhältnisses geschlagen, nicht nur die unbedeutendsten
Dinge adelt, sondern auch die — natürlich im edlen Sinne — bornirtesten An¬
schauungen mit in den Kauf nimmt.

Ebenso entschieden aber wie diese Zuneigung, deren Ursache wir angedeutet
haben, hat sich in unsrem literarischen Interesse die Kehrseite derselben heraus¬
gestellt. Es ist die slavische Literatur, welche dies zu allen Zeiten und beson¬
ders nachdrücklich und, daß wir es sagen, principiell in unsrer Gegenwart hat
erfahren müssen. Unser officielles Verhalten gegen diese Literatur ist Gleich-
giltigkeit, in allen sittlichen Verhältnissen die schlimmste Form. Fragen wir
uns einmal ehrlich, woher dies kommt. Zunächst bieten sich uns gewichtige
äußerliche Erklärungsgründe an. Die slavische — und specieller die wortfüh-
rcnde böhmische Literatur liegt uns infolge ihres Idiomes fern, welches das
Bürgerrecht in der literarischen Welt zwar beharrlich anstrebt, aber dennoch
außerhalb des Kreises von Sprachen geblieben ist und bleiben wird, wel¬
chen die gesteigerte und erweiterte Anforderung literarischer Kenntniß in unsrer
Zeit gezogen bat. Den ersten Antrieb zur Aneignung einer fremden Sprache
gibt — abgesehen von den privaten Interessen der Einzelnen — das Bedürf¬
niß des Verkehres von Volk mit Volk, der geistige und sittliche Umgang von
Individualitäten, die einander anerkennen und bedürfen. Aber in diesem Sinne
ist unser Umgang mit den Slaven auf ein Minimum beschränkt; ja streng
genommen besteht er gar nicht; nur in Dingen, die keinen Antheil am Gemüthe
im weitesten Sinne haben, eigentlich nur in Handel- und Güterleben verkehren
Wir mit ihnen. Und selbst hierin — geschweige denn im geistigen, literarischen
Verkehre — haben wir uns gewöhnt, daß nicht wir sie, sondern sie uns auf¬
suchen. Zu dieser Stellung scheinen die slavischen Völker von der Natur selbst
angewiesen, die ihnen das verhängnisvolle Geschenk ausgezeichneter Accommo-
dationsfähigkeit in Sprache und Leben verliehen hat. Dieser Umstand berech¬
tigt keineswegs ohne Weiteres zu dem Schlüsse auf geistige Inferiorität. Es
ist vielmehr zunächst nur ein allenthalben geltendes Naturgesetz, daß, wo Völ¬
ker von verschiedenen Sprachstämmen einander nachbarlich begegnen,' dasjenige
Idiom den kürzeren zieht, welches das relativ minder entwickelte ist, d. h. dessen


Grcnzlwtcn III. 1863, 20
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[0161] Fühlung des Werthes der Volkspersönlichkeit, deren praktische Form das nationale Selbstbewußtsein ist. Dies erst vermittelt uns seiner Natur nach vor allem bei der Geschichtsliteratur die lebhafte und stets gegenwärtige Empfindung des Schatzes unserer eigenen Geistesthaten, und erst auf Grund des subjectiven Maßstabes, welchen sie uns an die Hand geben, finden wir den absoluten für die fremden Leistungen. Wo sie uns aber, wie dies bei der englischen Litera¬ tur ganz besonders der Fall ist, von einem Volke geboten werden, das wir in seinem nationalen und politischen Leben als Vorbild feiern, da Pflegen wir uns mit einem Eifer, einer Empfänglichkeit hinzugeben, die, mit der rührenden Blindheit eines Gemüthsverhältnisses geschlagen, nicht nur die unbedeutendsten Dinge adelt, sondern auch die — natürlich im edlen Sinne — bornirtesten An¬ schauungen mit in den Kauf nimmt. Ebenso entschieden aber wie diese Zuneigung, deren Ursache wir angedeutet haben, hat sich in unsrem literarischen Interesse die Kehrseite derselben heraus¬ gestellt. Es ist die slavische Literatur, welche dies zu allen Zeiten und beson¬ ders nachdrücklich und, daß wir es sagen, principiell in unsrer Gegenwart hat erfahren müssen. Unser officielles Verhalten gegen diese Literatur ist Gleich- giltigkeit, in allen sittlichen Verhältnissen die schlimmste Form. Fragen wir uns einmal ehrlich, woher dies kommt. Zunächst bieten sich uns gewichtige äußerliche Erklärungsgründe an. Die slavische — und specieller die wortfüh- rcnde böhmische Literatur liegt uns infolge ihres Idiomes fern, welches das Bürgerrecht in der literarischen Welt zwar beharrlich anstrebt, aber dennoch außerhalb des Kreises von Sprachen geblieben ist und bleiben wird, wel¬ chen die gesteigerte und erweiterte Anforderung literarischer Kenntniß in unsrer Zeit gezogen bat. Den ersten Antrieb zur Aneignung einer fremden Sprache gibt — abgesehen von den privaten Interessen der Einzelnen — das Bedürf¬ niß des Verkehres von Volk mit Volk, der geistige und sittliche Umgang von Individualitäten, die einander anerkennen und bedürfen. Aber in diesem Sinne ist unser Umgang mit den Slaven auf ein Minimum beschränkt; ja streng genommen besteht er gar nicht; nur in Dingen, die keinen Antheil am Gemüthe im weitesten Sinne haben, eigentlich nur in Handel- und Güterleben verkehren Wir mit ihnen. Und selbst hierin — geschweige denn im geistigen, literarischen Verkehre — haben wir uns gewöhnt, daß nicht wir sie, sondern sie uns auf¬ suchen. Zu dieser Stellung scheinen die slavischen Völker von der Natur selbst angewiesen, die ihnen das verhängnisvolle Geschenk ausgezeichneter Accommo- dationsfähigkeit in Sprache und Leben verliehen hat. Dieser Umstand berech¬ tigt keineswegs ohne Weiteres zu dem Schlüsse auf geistige Inferiorität. Es ist vielmehr zunächst nur ein allenthalben geltendes Naturgesetz, daß, wo Völ¬ ker von verschiedenen Sprachstämmen einander nachbarlich begegnen,' dasjenige Idiom den kürzeren zieht, welches das relativ minder entwickelte ist, d. h. dessen Grcnzlwtcn III. 1863, 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/161>, abgerufen am 01.09.2024.