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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Popes als das Höchste der englischen Kunst geschildert worden, und wie er in spä¬
teren stürmischen Tagen jede kleinste Erinnerung an die glückliche Schulzeit zu
Harrow mit wehmüthiger Liebe bewahrte, so sind auch seine ästhetischen Mei¬
nungen den Eindrücken seiner Jugend niemals völlig entwachsen. In der That,
nur sehr Weniges unter den englischen Gedichten des achtzehnten Jahrhunderts
war Byrons Genius verwandt, konnte ihm zum Herzen reden. Die wahrhaft
lebendigen Werke dieser Zeit lagen auf jenem Grenzgebiete der Poesie, das die
Briten noch heute selten oder nie in den Begriff der pygtr^ einschließen, auf
dem Felde des Sittenromans. Das-liebevolle Beobachten des täglichen Lebens
bis in das kleinste Detail hinein, das ziemlich genaue, naturwahre Darstellen
der Charaktere aus der Alltagswelt war die mit Recht bewunderte Eigenthüm¬
lichkeit der englischen Literatur geworden, seit Desoes Robinson, seit Addisons
spectator und den geistvollen Novellisten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts,
und diese bescheidenen Werke gaben ein getreueres Bild von dem Gemüthe ih¬
res Volks, waren reicher an echter Poesie als die anmaßlichen Versuche, das
gespreizte Heidenthum der Franzosen in correcten Versen nach England einzu¬
führen. Aber Byrons durchaus lyrisch erregter Sinn sah über die Prosa des
Romans vornehm hinweg, und je sicherer er sich im Stillen gestehen mußte,
ihm sei die Gabe der überzeugenden Charakterzeichnung nur kärglich zugemessen,
desto eifriger schwor er auf Pope. Zu diesem "Fürsten der Reime und großen
Dichter des Verstandes" zog ihn hin der Wohllaut des Verses, der reiche Witz,
die seinem eigenen Wesen verwandte Freude an der malerischen Beschreibung
und der ihm gleichfalls verwandte satirische Genius, der seine Gestalten nicht
sowohl darstellt als betrachtet. Und war ihm selber die dramatische Kraft ver¬
sagt, so tröstete er sich, auch Pope habe geringschätzig geredet von dem werth¬
losen Beifall der Zuschauer. So blieb er dabei, die Poesie der Gegenwart
verhalte sich zu Pope wie die phantastische Pracht einer Moschee zu dem Adel
der Linien eines dorischen Tempels. Der Vergleich ist nicht ganz verkehrt --
wenn wir nur unter diesem "dorischen Tempel" uns nicht das Heili gthum des
olympischen Zeus denken, sondern eines jener "classischen" Bauwerke, welche
als Vignetten vor den Gedichten des Herrn Biedermeier zu prangen Pflegen.
Wahrlich, wer bliebe ernsthaft, wenn er Byron sich leibhaftig vorstellt neben
seinem Ideale, wie der moderne "Genius mit den Kainszeichen" eintritt in die
künstliche Grotte des Gartens von Twickenham. aus der Dose des kleinen
Mannes mit der großen Perrücke eine Prise nimmt und dann dem eintönigen
Geplcitscher seiner correcten Verse lauscht? Wer staunte nicht über diese theore¬
tische Vorliebe Byrons, wenn er eins der feurigen Gedichte des Jüngers mit
einem Werke des Meisters vergleicht, etwa mit jenem Briefe der Heloise an
Abälard, wo ein Stoff, glühend von gewaltiger Leidenschaft, untergeht in einer
Sündflutl) gezierter Langeweile? Von den Heroen der älteren englischen Litera-


Popes als das Höchste der englischen Kunst geschildert worden, und wie er in spä¬
teren stürmischen Tagen jede kleinste Erinnerung an die glückliche Schulzeit zu
Harrow mit wehmüthiger Liebe bewahrte, so sind auch seine ästhetischen Mei¬
nungen den Eindrücken seiner Jugend niemals völlig entwachsen. In der That,
nur sehr Weniges unter den englischen Gedichten des achtzehnten Jahrhunderts
war Byrons Genius verwandt, konnte ihm zum Herzen reden. Die wahrhaft
lebendigen Werke dieser Zeit lagen auf jenem Grenzgebiete der Poesie, das die
Briten noch heute selten oder nie in den Begriff der pygtr^ einschließen, auf
dem Felde des Sittenromans. Das-liebevolle Beobachten des täglichen Lebens
bis in das kleinste Detail hinein, das ziemlich genaue, naturwahre Darstellen
der Charaktere aus der Alltagswelt war die mit Recht bewunderte Eigenthüm¬
lichkeit der englischen Literatur geworden, seit Desoes Robinson, seit Addisons
spectator und den geistvollen Novellisten der zweiten Hälfte des Jahrhunderts,
und diese bescheidenen Werke gaben ein getreueres Bild von dem Gemüthe ih¬
res Volks, waren reicher an echter Poesie als die anmaßlichen Versuche, das
gespreizte Heidenthum der Franzosen in correcten Versen nach England einzu¬
führen. Aber Byrons durchaus lyrisch erregter Sinn sah über die Prosa des
Romans vornehm hinweg, und je sicherer er sich im Stillen gestehen mußte,
ihm sei die Gabe der überzeugenden Charakterzeichnung nur kärglich zugemessen,
desto eifriger schwor er auf Pope. Zu diesem „Fürsten der Reime und großen
Dichter des Verstandes" zog ihn hin der Wohllaut des Verses, der reiche Witz,
die seinem eigenen Wesen verwandte Freude an der malerischen Beschreibung
und der ihm gleichfalls verwandte satirische Genius, der seine Gestalten nicht
sowohl darstellt als betrachtet. Und war ihm selber die dramatische Kraft ver¬
sagt, so tröstete er sich, auch Pope habe geringschätzig geredet von dem werth¬
losen Beifall der Zuschauer. So blieb er dabei, die Poesie der Gegenwart
verhalte sich zu Pope wie die phantastische Pracht einer Moschee zu dem Adel
der Linien eines dorischen Tempels. Der Vergleich ist nicht ganz verkehrt —
wenn wir nur unter diesem „dorischen Tempel" uns nicht das Heili gthum des
olympischen Zeus denken, sondern eines jener „classischen" Bauwerke, welche
als Vignetten vor den Gedichten des Herrn Biedermeier zu prangen Pflegen.
Wahrlich, wer bliebe ernsthaft, wenn er Byron sich leibhaftig vorstellt neben
seinem Ideale, wie der moderne „Genius mit den Kainszeichen" eintritt in die
künstliche Grotte des Gartens von Twickenham. aus der Dose des kleinen
Mannes mit der großen Perrücke eine Prise nimmt und dann dem eintönigen
Geplcitscher seiner correcten Verse lauscht? Wer staunte nicht über diese theore¬
tische Vorliebe Byrons, wenn er eins der feurigen Gedichte des Jüngers mit
einem Werke des Meisters vergleicht, etwa mit jenem Briefe der Heloise an
Abälard, wo ein Stoff, glühend von gewaltiger Leidenschaft, untergeht in einer
Sündflutl) gezierter Langeweile? Von den Heroen der älteren englischen Litera-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/13>, abgerufen am 22.12.2024.